Tschechien wird europäischer: Halbzeitbilanz zur EU-Ratspräsidentschaft

Vergangene Woche haben in Prag sowohl der informelle EU-Gipfel als auch das Treffen der Staats- und Regierungschefs von 44 europäischen Ländern stattgefunden. Dies war einer der Höhepunkte der EU-Ratspräsidentschaft, die Tschechien noch bis Ende des Jahres innehat. Gerade ist Halbzeit.

Kateřina Šafaříková | Foto: Barbora Linková,  Tschechischer Rundfunk

Tschechien würde ganz gut Punkte machen – dieses sportliche Vokabular nutzte Kateřina Šafaříková, Brüssel-Korrespondentin der Tageszeitung „Hospodářské noviny“ (Wirtschaftszeitung), bei ihrer Einschätzung der ersten Halbzeit der derzeit laufenden EU-Ratspräsidentschaft. Bei einer zu diesem Thema organisierten Diskussionsveranstaltung in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks beschrieb sie zudem eine geteilte Emotionslage, die die Führungsperiode immer noch begleite:

„In den Gesprächen mit tschechischen Diplomaten, Beamten und auch den meisten Europaabgeordneten in Brüssel überwiegt die Auffassung, die Ratspräsidentschaft sei eine Aufgabe, die erfüllt werden müsse. Bei den meisten Politikern in Prag aber herrscht – den Konversationen und Äußerungen in den Medien zufolge – das Gefühl vor, dass die Ratspräsidentschaft eine Quälerei sei, die es zu überleben gilt.“

Radek Špicar | Foto: Kateřina Cibulka,  Tschechischer Rundfunk

Eine andere Perspektive als die politische nimmt Radek Špicar ein. Der Vizepräsident des tschechischen Verbandes für Industrie und Verkehr meint, die EU-Ratspräsidentschaft sei der hiesigen Wirtschaft sehr zuträglich. Und sie erlaube, Themen auf die Agenda der EU zu setzen, die Tschechien für wichtig erachtet. Weiter bemerkt Špicar aber einschränkend:

„Andererseits können wir nichts gewaltsam durchsetzen, was uns notwendig erscheint. Dies betrifft im Moment ein Thema, das – nicht ganz objektiv – auch für mich das dringendste ist: eine Lösung der Energiekrise nämlich für die großen Unternehmen. Diesbezüglich bremst uns die Ratspräsidentschaft eher aus. Ich denke, die tschechischen Politiker würden dabei mehr Druck ausüben, wenn sie nicht gerade die Moderatorenrolle in dieser Debatte ausfüllen müssten und härter für unsere nationalen Interessen kämpfen könnten.“

Illustrationsfoto: Frauke Riether,  Pixabay,  Pixabay License

Immerhin gebe es beim Thema Energiekrise aber eine klare politische Linie, die die tschechische Regierung bei der Ratspräsidentschaft verfolge, warf Šafaříková ein. Dies sei auf manchen weiteren Gebieten anders:

„Ich sehe Mängel gerade in jenen Bereichen, in denen die politischen Vorgaben fehlen oder wegen Uneinigkeiten in der Koalition nicht eindeutig sind. Während die Regierung in der europäischen Energiekrise sehr gut und zielgerichtet agiert, finden sich Schwachstellen beim Rechtsstaat, beim Schutz unabhängiger Institutionen, bei unabhängigen Medien und Gerichten – also überall dort, worüber die EU seit langem mit Ungarn und auch Polen im Streit liegt.“

Viktor Orbán und Emmanuel Macron im Prag am Treffen der europäischen Spitzenpolitiker in Prag | Foto: Kay Nietfeld,  ČTK/DPA

Eigentlich sollte die EU unter Tschechiens Führung einen klaren Standpunkt im Umgang mit Ungarn und dessen Premier Viktor Orbán finden, erinnerte die Journalistin. Dieser sei aber nicht in Sicht.

Ein weiteres Anliegen der tschechischen Ratspräsidentschaft ist es nicht zuletzt, das Ansehen der EU im eigenen Land zu verbessern. Auf die Frage, ob dieses Ziel erreicht werden könne, antwortete Radek Špicar:

„Bisher wird über die Union hierzulande nicht sehr nett geredet. Tschechien ist eines der EU-skeptischsten Länder überhaupt, und wenn jemand ein Austrittsreferendum initiieren würde, hätte ich Angst vor dem Ergebnis. Eine erfolgreiche Ratspräsidentschaft, die vielleicht auch die Energiekrise löst, könnte aber dabei helfen, dass hierzulande besser über die EU gesprochen wird.“

Auf jeden Fall werde Tschechien nach Beendigung dieser EU-Ratspräsidentschaft aber europäischer sein, gibt sich Špicar überzeugt.

Foto: kreatikar,  Pixabay,  Pixabay License
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