Tschechische Holocaust-Zeitzeugen an deutschen Schulen
640.000 Tschechinnen und Tschechen mussten während des Nationalsozialismus für das "Dritte Reich" Zwangsarbeit leisten - angefangen von Büroarbeit bis hin zum Einsatz in Arbeits- und Konzentrationslagern. Etwa 100.000 von ihnen leben heute noch. Im Rahmen des Projekts "Ehemalige tschechische Zwangsarbeiter/innen in deutschen Schulen" berichteten in den vergangenen dreieinhalb Jahren rund 30 Überlebende aus Tschechien über ihr Schicksal während des Kriegs. An einer dieser Zeitzeugenbegegnungen an einer Mittelschule im sächsischen Bautzen hat Silja Schultheis Ende April teilgenommen.
"Ich war acht Jahre alt, als alles angefangen hat. Wir haben in Österreich gewohnt und mussten nach dem Anschluss, als Österreich zu Deutschland gekommen ist, das Land verlassen. Wir waren tschechische Juden, so hat mein Vater die Arbeit verloren, wir haben die Wohnung verloren und ich musste die Schule verlassen."
Eliska Levinska, damals 12 Jahre alt, zunächst nach Theresienstadt. Sie erinnert sich, wie es hier den Nazis gelang, eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes, der sie aus Propaganda-Gründen einen Besuch im Lager gestattet hatten, über die wahren Bedingungen zu täuschen:
"Man hat Theresienstadt schön gemacht, Spielplätze gebaut, Konzerte veranstaltet, es war ein Cafehaus geöffnet, Geschäfte - aber nur in den Schaufenstern war Bekleidung. Weiter hat man viel mit Kultur gemacht, Theater gespielt. Die Delegation des Roten Kreuzes ist gekommen, hat alles gesehen, was ihr die SS gezeigt hat. Nur ausgewählte Leute durften sich in dieser Zeit auf den Straßen aufhalten - gut aussehende, glücklich aussehende, gesund aussehende. Und wir anderen waren eingesperrt in unseren Unterkünften, wir durften noch nicht einmal zum Fenster gehen. Und so fiel das Resümee der Delegation über Theresienstadt sehr positiv aus: als Geschenk Hitlers an die Juden bezeichneten sie den Ort. Das war im Juli 1944."
Kurze Zeit später, Ende Oktober, werden Eliska Levinska und ihre Eltern ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Wie durch ein Wunder gelang es der damals 14Jährigen dem Tod zu entkommen, der hier in der Regel allen Kindern unter 16 Jahren auf der Stelle drohte:
"Wir waren ein Transport von 2030 Personen. 194 Frauen, 200 Männer und fünf Mädchen in meinem Alter kamen an der Rampe in Auschwitz auf die Seite der Lebenden. Die übrigen mussten alle in die Gaskammer. Dort sind die Leute alle hineinmarschiert und nie wieder herausgekommen. Noch als wir bereits in Auschwitz waren, wussten wir nicht, was mit den anderen passiert. Man hat uns gesagt: Schaut auf diesen Schornstein, da ist immer Feuer, da verbrennen sie auch den Transport, mit dem ihr gekommen seid. Aber wissen Sie, wenn man so etwas gesagt bekommt, versteht man es nicht. Das war so sein Schock, wir haben gar nicht verstanden, wieso Gaskammer, wie ist so etwas überhaupt möglich."
Während Eliska Levinska erzählt, ist es im Klassenzimmer Mucksmäuschen still. Das Pausenzeichen, das zwischendurch wiederholt ertönt, ignorieren die Schüler wie selbstverständlich. Niemand macht Anstalten aufzustehen. Wie sie trotz der grausamen Erlebnisse so lang die Hoffnung auf's Überleben aufrechterhalten konnte, fragt eine Schülerin die Zeitzeugin."Wissen Sie, niemand möchte sterben. Jeder wollte überleben. Und immer war da die Hoffnung: mir kann das nicht passieren, mir wird das nicht passieren. Und ich hatte das Glück, dass ich mit meiner Mutter im Lager war. Meine Mutter hat immer gesagt: Das ist nicht zu schlimm, es wird besser. Selbst wenn ich gewusst habe, dass es nicht so ist, habe ich ihr geglaubt. Das hat mir viel geholfen. Und meiner Mutter natürlich auch. Indem sie mir Hoffnung machte, machte sie sich auch selber Hoffnung. ."
Dass sie überhaupt jemals über das, was sie im Lager erlitten hat, würde sprechen können, war für Eliska Levinska lange Zeit völlig unvorstellbar:
"Nach dem Krieg, wenn jemand gesagt hat: Erzähl uns, wie das war im Konzentrationslager, hat mir das schrecklich wehgetan. Und die Träume, die waren furchtbar, die haben mich völlig fertig gemacht. Ich hab Angst gehabt einzuschlafen, weil im Traum immer die Lagerzeit zurückkam. Nicht einmal mit meinem Mann oder zuhause hab ich gesprochen über das Konzentrationslager."Erst 1990, nachdem sie den Shoa-Film von Claude Lanzman im Fernsehen gesehen hatte, hat Eliska Levinska allmählich begonnen, von ihren Erlebnissen zu erzählen. Seitdem hat sie mehrfach vor deutschen und tschechischen Schulklassen gesprochen und macht regelmäßig Führungen im ehemaligen Ghetto Theresienstadt.
"Ich glaube, es ist auch gut für die jungen Leute, dass sie das hören von jemand, der das wirklich überlebt hat. Weil, viele Leute - nicht dass sie das nicht glauben würden, aber es gibt auch solche, die das nicht glauben. Und es hilft auch mir ein bisschen, dass ich das sagen kann, dass ich das erklären kann, wissen Sie. Dass ich das nicht nur für mich behalte."Der Besuch von Eliska Levinska an der Bautzener Mittelschule war die vorerst letzte Zeitzeugenbegegnung, die die Brücke-Most-Stiftung für deutsche Lehrer und Schüler organisierte und pädagogisch begleitete. Denn trotz der enorm positiven Resonanz und der großen Nachfrage seitens der Schulen droht dem Projekt jetzt das Aus, sollte sich kein neuer Sponsor finden. Die bisherige Finanzierung durch die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" scheint jedenfalls definitiv zu Ende zu sein.
Bei der Nachbesprechung der Schülerbegegnung mit Eliska Levinska in Bautzen erinnert sich Projektleiter Werner Imhof von der Brücke-Most-Stiftung besonders an eines der über 250 Zeitzeugengespräche, die er in den vergangenen drei Jahren pädagogisch und fachlich begleitete:"Wir waren in einer Schule für ganz problematische Jugendliche - Drogenabhängige, Gewalttätige. Und dort kam nach einem Zeitzeugengespräch ein Jugendlicher, ein kräftiger junger Kerl, und hat dem Zeitzeugen mit beiden Händen die Hand gedrückt und gesagt, er wolle sich noch mal bedanken. Er sei hier, weil ihm schon ein paar Mal die Hand ausgerutscht sei. Und er habe nie zuvor so begriffen wie heute, was er damit auf der anderen Seite anrichtet. Und das hätte ihn doch sehr nachdenklich gemacht und dafür wollte er sich einfach noch mal bedanken."
Ein wirksameres Mittel gegen Rechtsextremismus als die Zeitzeugengespräche - davon ist Werner Imhof nach dreijähriger Erfahrung mit Schulen fest überzeugt - kann es gar nicht geben. Die Brücke-Most-Stiftung hat daher gemeinsam mit dem Schriftsteller Peter Härtling, der nach dem Krieg aus Mähren vertrieben wurde, an Politik und Wirtschaft appelliert, sich für die Fortführung des Zeitzeugenprojekts zu engagieren. Denn, so warnt Peter Härtling:
"Wer von uns anfängt, Geschichte umzuerzählen und nicht auf die zu hören, die die Geschichte erfahren haben, der tut der nächsten Generation unrecht. Denn die erfährt so nichts - keine Realität. Keine erlittene und keine überwältigte Realität."