Tschechische Jugendverbände sind auf der Suche nach neuen Mitgliedern
Vor der Wende mussten alle Jugendlichen Mitglieder bei den jungen Pionieren oder später beim kommunistischen Jugendverband sein. Wer nicht dabei war, galt als auffällig und musste teilweise mit Konsequenzen rechnen, beispielsweise wenn er an der Hochschule studieren wollte. Heute basiert Jugendarbeit in den Vereinen auf Freiwilligkeit - und auch sie muss sich wohl oder übel nach den Gesetzmäßigkeiten des Marktes, als nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage richten.
Der Weg dazu führt in den meisten Fällen immer noch über die Mitgliedschaft in einem Verein. In Tschechien ist schätzungsweise knapp eine Viertelmillion Kinder und Jugendlicher in den verschiedensten Vereinen und Verbänden organisiert - in traditionellen und großen, wie etwa den Pfadfindern, oder aber auch in kleinen, stark ortsgebundenen Gruppen.
Seit neun Jahren gibt es mit dem Tschechischen Kinder- und Jugendrat auch eine Dachorganisation, die versucht den mehr als hundert Verbänden öffentlich Gehör zu verschaffen. Der Vorstand des repräsentativ zusammengesetzten Jugendrats betreibt aber nicht nur Lobbyarbeit bei Abgeordneten und Ministern, sondern versucht auch regelmäßig unter Jugendlichen dafür zu werben, dass sie ihre Freizeit sinnvoll nutzen.
Wie schwer haben es heute die Jugendverbände Jugendliche anzusprechen? Dazu Pavel Trantina, der Vorsitzenden des Tschechischen Kinder- und Jugendrates:
"Das ist ein allgemeines Problem, das in ganz Europa besteht, wie ich von meinen Bekannten im Ausland gehört habe. Die Konkurrenz auf dem Markt der Freizeit-Aktivitäten ist riesengroß und auch deshalb ist es ziemlich schwierig einen jungen Menschen anzusprechen und ihn dazu zu bringen, jede Woche eine regelmäßige Tätigkeit auszuüben. Der Trend geht eher in die Richtung, dass die Kinder einmal in unregelmäßigen Abständen irgendwo hingehen, sich mit Freunden treffen und es dann wieder sein lassen. Auf der anderen Seite stimmt aber, dass sich die Kinder heutzutage langweilen. Das geht zumindest aus einer Studie hervor, die wir vor zwei Jahren in Auftrag gaben. Hier eröffnen sich für die einzelnen Vereine durchaus große Perspektiven. Damit hängt die Möglichkeit zusammen den Kindern klare Wertvorstellungen zu vermitteln - auch durch Tätigkeiten, bei denen sie etwas lernen können, ohne dass es aber wie wirkliches Lernen aussieht."
Lässt sich sagen, dass es bedeutende Unterschiede zwischen dem Freizeitangebot in großen Städten mit ihren vielen Möglichkeiten gibt und auf dem Land. Pavel Trantina sagt:
"Die Unterschiede gibt es zwar, sie sind aber vielleicht etwas anderer Art, als man erwarten würde. In den großen Städten gibt es zwar ein Überangebot, aber nicht jedes Kind findet das, was es wirklich will. Auf dem Land, in kleineren Städten und auf Dörfern gibt es zwar vielleicht nur zwei oder drei Vereine, aber sie erreichen einen weitaus höheren Prozentsatz der Bevölkerung. Die zahlenmäßig größte Vereinigung in den Dörfern ist die freiwillige Feuerwehr, die ihrer Jugendarbeit ebenfalls großen Raum gewährt. In etwas größeren Gemeinden und kleineren Städten finden sich dann noch zusätzlich meistens Pfadfinder, Pioniere oder vergleichbare Gruppen sowie spezifische Vereine, die nur in der betreffenden Gemeinde anzutreffen sind."
Wie stark ist der Wettbewerb unter den einzelnen Verbänden? Früher hieß es, dass der sicherste Weg, um eine große Zahl von jugendlichen Mitgliedern zu erreichen, folgender ist: Man gewährt den jungen Menschen ein Höchstmaß an Freiheit, an Erlebnissen und verlangt womöglich nicht sonderlich viel von ihnen. Das würde also bedeuten, dass zum Beispiel traditionelle Vereine wie die Pfadfinder, in welchen den Mitgliedern durchaus etwas abverlangt wird, diesem Zeitgeist nicht entsprechen und somit Schwierigkeiten haben müssten, neue Mitglieder zu rekrutieren. Pavel Trantina:"Ich denke, dass das gut ist, weil diese Verbände immer schon gegen den Strom geschwommen sind. Sie legen großen Wert auf die Entfaltung der Persönlichkeit und persönliches Engagement und wollen bestimmt nicht Massenvereine sein. Vieles hängt aber auch vom Einfluss der Freunde und Altersgenossen ab, die bereits eine gute Gemeinschaft bilden müssen, in der man sich wohl fühlt. Das Ziel muss sein, dass Freundschaften entstehen, die dann auch außerhalb des Vereins und der regelmäßigen Gruppen-Treffen aufrecht bleiben. Wenn man einmal innerlich soweit gekommen ist, dann stehen nicht mehr die Ansprüche im Mittelpunkt, sondern dann sieht man in der Vereinsmitgliedschaft eine völlig natürliche Art, wie man seine Freizeit verbringt."
Die Situation in Tschechien ist natürlich deshalb spezifisch. In der Zeit des Kommunismus wurde die Mitgliedschaft in den kommunistischen Jugendverbänden von oben verordnet, nach der Wende kam es dann zu einer Abkehr der Jugendlichen von organisierter Freizeittätigkeit, in welcher Form auch immer diese war. Man wollte eben die neu gewonnene Freiheit voll ausleben und nichts von oben diktiert bekommen. Diese Grundeinstellung ist auch heute noch weit verbreitet.
Gab es ähnliche Entwicklungen auch in den Ländern Westeuropas, wo die Kontinuität der Vereine und Verbände nicht unterbrochen war? Pavel Trantina vom Tschechischen Kinder- und Jugendrat meint dazu:
"Es zeigt sich, dass die meisten Probleme bezüglich der Einbeziehung von jungen Menschen in vielen Ländern Europas die gleichen sind. Es gibt aber auch Ausnahmen. In Portugal und Belgien haben zum Beispiel die Pfadfinder einen außerordentlich großen Erfolg und zwar dank eines neu entwickelten Ausbildungsprogramms. Dessen vordergründiges Ziel ist es, neue junge Menschen anzusprechen. Es ist aber auch immer stark von den Gegebenheiten in den jeweiligen Ländern abhängig."
Setzen die Vereine bei der Suche nach neuen Mitgliedern auch Marketing-Methoden ein, die man aus der Werbewirtschaft kennt? Oder ist ein solcher Zugang gegenüber den Jugendlichen tabu, weil man dabei vielleicht das genaue Gegenteil bewirken könnte? Dazu sagt Pavel Trantina:
"Mindestens die größten Vereine in Tschechien versuchen bereits mit gezielten Kampagnen neue Mitglieder zu bekommen. Meistens findet so etwas Anfang September statt, also mit Schulbeginn und diese Kennenlernaktionen finden oft im ganzen Land statt. Die einzelnen Verbände stellen sich vor und lassen die potentiellen neuen Mitglieder hinter die Kulissen schauen und praktisch fast alles ausprobieren, was sie ihnen anbieten können. Das gibt den Vereinen die Gelegenheit, persönlich mit den interessierten Jugendlichen zusammenzukommen und diese können dann sagen: ´Ja, das ist genau die Tätigkeit, die ich das ganze Jahr über tun möchte.´"
In den frühen 90er Jahren beklagten viele der traditionellen Vereine und Verbände, die nach der Wende ihre Arbeit wieder aufnahmen, dass ihnen das von den Kommunisten enteignete Eigentum nicht zurückgegeben wurde. So hatten zum Beispiel die Pfadfinder, aber auch der traditionelle tschechische Turner-Verband Sokol aus diesem Grund beträchtliche Startschwierigkeiten. Die Eigentumsfrage wurde im Prinzip bis heute nicht vollkommen geklärt. Dennoch: Welches Problem wiegt heute schwerer? Die fehlenden Gebäude oder die Schwierigkeiten bei der Suche nach neuen Mitgliedern? Dazu abschließend noch einmal der Vorsitzende des Tschechischen Kinder- und Jugendrats, Pavel Trantina:
"Ich denke, dass materielle Fragen in der Vergangenheit nie das wichtigste Problem waren, und auch heute ist es nicht anders. Die größte Herausforderung ist heute tatsächlich die Suche nach neuen Mitgliedern. Zum Beispiel erneuerten die Pfadfinder in den vergangenen Jahren komplett ihr Bildungsprogramm. Sie legen jetzt großen Wert auf ihre äußere Präsentation und das ist meiner Meinung nach der Schlüssel, wie man die sinkenden Mitgliederzahlen stoppen könnte. Das haben auch die Erfahrungen im Ausland gezeigt. Natürlich ist auch die materielle Seite wichtig. In Tschechien gab es einen Fonds, der das frühere Eigentum des kommunistischen Jugendverbandes verwaltete. Der Fonds wurde jedoch aufgelöst und die Verbände wissen nicht, wie sie die oft beschädigten Häuser, die sie übernommen haben, wieder in Stand setzen sollen. Der Tschechische Kinder- und Jugendrat versucht nun die Mittel dafür aufzutreiben."