Türkei in die EU? Der lange Schatten aus der Zukunft

Klaus Hänsch und David Kral

Auch wenn die Europäische Union Anfang Oktober offizielle Beitrittsverhandlungen mit ihr aufgenommen hat: Eine EU-Mitgliedschaft der Türkei, das meinen so gut wie alle Experten, wird es in den nächsten zehn Jahren nicht geben. Ja vielleicht nicht einmal in fünfzehn Jahren. Oder vielleicht überhaupt nie. Dennoch beschäftigt das Thema die europäische Öffentlichkeit derzeit wie kaum ein zweites. Auch in Prag war es dieser Tage Gegenstand einer internationalen Konferenz namhafter Fachleute. Gerald Schubert war dabei und hat dazu den folgenden "Schauplatz" gestaltet:

Klaus Hänsch und David Kral
Für die einen ist er die große Chance zur Stabilisierung und weiteren Demokratisierung eines bedeutenden Teils der islamischen Welt. Für andere ist er das Schreckgespenst aus dem Orient, unvereinbar mit der westlichen Kultur und den mehrheitlich christlich-jüdischen Wurzeln Europas. Wieder andere sehen in ihm eine Gefährdung der politischen Integration der EU. Und manche würden ihn genau deshalb begrüßen. Die Rede ist von einem eventuellen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union bzw. von den Beitrittsverhandlungen, die am 3. Oktober offiziell aufgenommen wurden.

Wie facettenreich und auch wie leidenschaftlich die Diskussion rund um die EU-Tauglichkeit der Türkei und die Aufnahmefähigkeit der EU sein kann, das zeigte sich diese Woche auch auf einer Fachkonferenz in Prag. "Die Türkei und die EU: Vier Ansichten aus Mitteleuropa", so der Name der Veranstaltung. Organisiert wurde sie von der Friedrich-Ebert Stiftung, die der deutschen SPD nahe steht, und vom tschechischen Institut für europäische Politik "Europeum".

Vier Ansichten, das bedeutet Ansichten aus Tschechien, Deutschland, Österreich und Polen. Experten aus diesen vier Ländern gaben im Prager Hotel Renaissance Einblicke in einige Grundzüge der Diskussion. So bezeichnete etwa Udo Steinbach, der Direktor des Deutschen Orient-Instituts, die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei als "visionäre" Entscheidung. Allerdings betonte er die Notwendigkeit einer tiefen Diskussion, denn so gut wie jedem Pro- stünde ein Contraargument entgegen. In dem Beitrittsprozess, der nach allgemeiner Einschätzung mindestens 10 Jahre dauern dürfte, sieht er aber große Chancen.

Eher skeptisch äußerte sich in seiner Eingangsrede hingegen der ehemalige Präsident des Europaparlaments Klaus Hänsch. Hänsch ist auch heute noch EU-Abgeordneter und als solcher Mitglied des außenpolitischen Ausschusses. Radio Prag hat am Rande der Konferenz mit ihm gesprochen und ihn nach seinen größten Vorbehalten gefragt. Einer der Punkte: Die Zypernfrage.

"Wir sind der Meinung, dass in sehr kurzer Zeit klar sein muss, dass die Beitrittsverhandlungen nicht fortgesetzt werden können, solange die Türkei einen Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht voll und ganz anerkennt. Das ist bei Zypern der Fall. Diese Frage muss in den ersten Monaten der Beitrittsverhandlungen geregelt werden. Um dafür Druck auszuüben, hat das Europäische Parlament sich geweigert, das Zusatzprotokoll zur Zollunion mit der Türkei zu ratifizieren. Wir wollen erst wissen, wie die türkische Nationalversammlung zur Zypernfrage steht."

Zentrales Anliegen des Sozialdemokraten Hänsch ist jedoch, dass eine allfällige Erweiterung der EU um die Türkei der weiteren politischen Integration der EU nicht im Wege steht:

"Vertiefung und Erweiterung werden gemeinsam behandelt, und sie gehören auch zusammen. Die große Mehrheit im Europäischen Parlament sagt: Erweitern kann sich die Europäische Union nur, wenn sie sich vertieft. Alles andere führt zur Erosion und zur Auflösung Europas und damit auch zum Verlust der europäischen Stellung in der Welt."

Damit nimmt Hänsch eine Position ein, die der des tschechischen Präsidenten Vaclav Klaus diametral gegenübersteht. Denn dieser hat jüngst in einem Aufsehen erregenden Zeitungsinterview gemeint, die EU solle sich nicht nur um die Türkei und die Ukraine, sondern auch um Marokko und Kasachstan erweitern. Kritiker haben Klaus seither immer wieder vorgeworfen, dass er damit lediglich eine Destabilisierung der Union vorantreibe, der er ja bekanntlich überaus skeptisch gegenübersteht. Ähnlich sieht das auch Hänsch:

"Ich finde es schon seltsam, dass jemand, der von der Europäischen Union so wenig hält, nun andere Staaten davon überzeugen will, dass sie unbedingt Mitglieder der Europäischen Union werden müssen! Ich glaube, dass seine Strategie dahin geht, die Europäische Union in einem großen Markt aufzulösen. Und das kann und wird nicht das Ziel der europäischen Einigung sein."


Die wirtschaftlichen Aspekte eines etwaigen türkischen Beitritts zur EU beleuchtete auf der Prager Konferenz Josef Pöschl vom Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche. Die Aufregung rund um das Thema Türkei kann Pöschl nicht ganz nachvollziehen. Wenigstens nicht aus der Sicht des Ökonomen:

"Was das Bruttoinlandsprodukt, also die Wirtschaftsleistung der Türkei betrifft, so beträgt diese zwei Prozent der EU, wenn man sie auf Basis der Wechselkurse berechnet. Und wenn man mit Kaufkraftparitäten rechnet, was wirklich die bessere Methode ist, dann sind es vier Prozent. Damit ist die Wirtschaftsleistung ähnlich groß wie in Polen!"

Diese zwei bzw. vier Prozent sind natürlich nicht als Pro-Kopf-Wert gemeint, sondern als Vergleich der Türkei mit der gesamten EU zusammen. Durchaus ansehnliche Zahlen also, meint Pöschl. Und auch die Dynamik der türkischen Wirtschaft sieht Pöschl positiv:

"Die Bevölkerung wächst. Und es gibt auch sehr großes Humankapital, und zweifellos auch Wissenschaftler und Künstler auf Weltniveau. Die Industrie ist zwar zu klein für so ein großes Land, aber ein Teil von ihr ist sehr modern und wirklich ein Global Player. Und es gibt auch einen heimischen türkischen Kapitalismus, den es bei den Osteuropäern nicht gegeben hat."

Im Gespräch mit Radio Prag macht der Ökonom Pöschl dann doch noch einen Abstecher in die Gefilde der Kultur. Oder wenigstens dorthin, wo allfällige kulturelle Unterschiede sich auch für die europäische Wirtschaft als fruchtbringend erweisen könnten:

"Ich glaube, dass es in fünfzehn oder zwanzig Jahren eine Art globalisierte Kultur geben wird, dass die Menschen einander sehr ähnlich sein werden. Egal ob Moslems oder Christen - sie werden wahrscheinlich am 24. Dezember einen Christbaum haben, sie werden am 31. Oktober Halloween feiern, sie werden beim Computer sitzen und sie werden Pizza essen. Also die Sache mit der Kultur halte ich für ein wenig übertrieben. Und außerdem: Wenn man sich Gesellschaften ansieht, die etwas gemischt sind, so wie zum Beispiel in New York oder in Kalifornien, oder auch wie früher in der österreichisch-ungarischen Monarchie, dann zeigt sich, dass das auch eine Chance ist, das Humankapital zu entwickeln. Denn aus den Konflikten und aus dem Wettbewerb, den es dort gibt, kommt auch eine sehr große Leistung heraus. Insofern könnte das Humankapital ganz Europas davon profitieren, wenn die Türkei dabei ist - als etwas anderer Partner."


Das Gastgeberland der Konferenz, also Tschechien selbst, beteiligt sich an dieser Debatte übrigens mit weniger Emotionen als die meisten westeuropäischen Staaten. Das mag zum Teil daran liegen, dass es hierzulande so gut wie keine türkische Minderheit gibt. Einschlägige Vorurteile und Türkeistereotypen hatten also kaum Gelegenheit, sich in der allgemeinen Wahrnehmung des neuen Kandidatenlandes festzusetzen. Auch die politischen Parteien Tschechiens stehen einer EU-Mitgliedschaft der Türkei großteils aufgeschlossen gegenüber. Wenn auch aus verschiedenen Gründen, sagt David Kral, der Direktor des tschechischen Instituts für europäische Politik "Europeum":

"Bei der Sozialdemokratie beruhen die Motive hauptsächlich auf den Positionen der sozialistischen Parteien Westeuropas, also der alten EU-Mitgliedstaaten. Diese sehen die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei meist als logischen Schritt der weiteren Entwicklung der Europäischen Union - auf dem Weg zur Verbreitung von Stabilität und Prosperität auf dem europäischen Kontinent. Außerdem betrachten sie ihn oft auch als Möglichkeit zur Einschränkung extremistischer oder gar militanter islamistischer Kräfte in der türkischen Politik."

Soweit David Kral zur Ausrichtung der in Tschechien regierenden Sozialdemokraten (CSSD). Das Hauptargument der oppositionellen Demokratischen Bürgerpartei (ODS) hingegen erinnere sehr stark an die Art und Weise, wie etwa die britischen Konservativen einen eventuellen Beitritt der Türkei sehen, meint Kral. Nämlich in dem Sinn, dass dieser einer weiteren politischen Integration Europas eben nicht gerade förderlich sein dürfte. Und das ist bekanntlich auch die Linie des ODS-Ehrenvorsitzenden - also die von Staatspräsident Vaclav Klaus.