„Unerlaubt köstlich“ – Slawistin Keßler über Havels „Gartenfest“ auf deutschen Bühnen

Foto: Archiv des Nationaltheaters

Václav Havels „Gartenfest“ - auf Tschechisch „Zahradní slavnost“ - stand kürzlich in Prag im Mittelpunkt einer wissenschaftlichen Konferenz. Literatur- und Theaterwissenschaftler aus dem In- und Ausland diskutierten über das Stück als „Schlüsselereignis des modernen tschechischen Theaters“. Die Uraufführung des Gartenfests fand am 3. Dezember 1963 statt. Nadine Keßler ist promovierte Slawistin und Bibliothekarin an der Universität Passau. Sie hat erforscht, wie das von der Tradition des absurden Theaters beeinflusste „Gartenfest“ in Deutschland rezipiert wurde. Derzeit schreibt sie eine Dissertationsarbeit über das Theaterschaffen Václav Havels und seiner Rezeption in der früheren Tschechoslowakei und der Bundesrepublik Deutschland. Jitka Mládková sprach am Rand der Konferenz in Prag mit Nadine Keßler.

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Frau Keßler, das Leitmotto ihres Vortrags lautet „Unerlaubt köstlich – das Gartenfest in der Werkstatt“. Was ist darunter zu verstehen?

„Unerlaubt köstlich ist der Titel einer der Rezensionen, die ich zu Václav Havels Erstaufführung im Schiller-Theater im damaligen Westberlin gefunden habe. ´Unerlaubt köstlich´ war für mich die Zusammenfassung für all die 17 Rezensionen, die über die damalige Inszenierung geschrieben wurden. Es gab noch weitere Rezensenten, die davon gesprochen haben, dass das Stück köstlich gewesen sei und dann eben von ´einem köstlichen Gartenfest´ geschrieben haben. Den Kritikern nach war es für die deutschen Zuschauer offensichtlich ein sehr amüsanter und sehr witziger Abend im Schiller-Theater gewesen.“

Das Bühnenstück „Das Gartenfest“ wurde zum ersten Mal im Ausland gerade in Deutschland, genauer gesagt in Westberlin aufgeführt…

Schiller-Theater  (Foto: Bundesarchiv,  B 145 Bild-F000894-0009 / Gielow / CC-BY-SA)
„Ja. Dieses Stück kam im Grund nicht einmal ein Jahr nach der Uraufführung auf die Bühne. Am 2. Oktober 1964 wurde es in der so genannten Werkstatt des Schiller-Theaters das erste Mal in Deutschland aufgeführt. Die ´Werkstatt´ ist die kleine Bühne des Schiller-Theaters. Und interessant ist eben dabei, dass es an einem so wichtigen Theater erstaufgeführt wurde - mit dem in Deutschland sehr bekannten Intendanten Boleslav Barlog an der Spitze, der sich schon im Vorhinein sehr für Havels Stücke interessiert hat. Auch der Chef des Rowohlt-Theaterverlags, Klaus Juncker, machte auf das Stück aufmerksam und bemühte sich darum, Havels ´Gartenfest´ nach Berlin zu holen. Das ist dann gelungen und die Erstaufführung in Berlin übernahm Hansjörg Utzerath, der damals zu den Shooting-Stars unter den Regisseuren gehörte.“

Foto: Manuel Palomino Arjona,  Flickr
Interessant ist auch, dass die Prager Premiere von Havels Gartenfest in Deutschland schon Ende November 1963 angekündigt wurde!

„Das stand in einer deutschen Zeitung schon vor der Uraufführung in Prag. Man hat darüber informiert, dass es ein interessantes Stück gibt, das in Prag gerade geprobt wird und im Dezember auf die Bühne kommen wird. Zudem hieß es, dass man von dem Autor sicherlich noch einiges hören wird.“

Ist das vielleicht ein Beweis dafür, dass sich in Deutschland einige Menschen für die Entwicklung im tschechischen Theater interessiert haben?

„Ja, das ist ein Beweis dafür. Gerade in der deutschen Theaterzeitschrift ´Theater heute´ war die Tschechoslowakei seit 1961 immer wieder ein Thema. In der Tschechoslowakei sprach man schon Mitte der 60er Jahre von einer Krise des tschechoslowakischen Theaters, während man in Deutschland das tschechische beziehungsweise tschechoslowakische Theater interessanterweise immer als etwas Inspirierendes wahrgenommen hat. Die Regisseure, oder sogar auch die Bühnenbildner wie zum Beispiel Josef Svoboda, wurden in dieser Zeitschrift vorgestellt. Interessant finde ich, dass dies Ende der 60er Jahre kulminierte, konkret im Januar-Heft 1969 von ´Theater heute´. Dort fragte man sich dann, ob Prag überhaupt noch die Theaterhauptstadt Europas sei.“

Václav Havel  (Foto: Tomáš Vodňanský,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
War es nicht eher eine emotionale Reaktion im Hinblick auf die Okkupation der Tschechoslowakei durch die Warschauer-Pakt-Staaten im August 1968?

„Natürlich hängt es genau damit zusammen. Zugleich ist es aber auch eine Replik auf einen englischen Rezensenten, der mal geäußert hatte, dass Prag eben die Theaterhauptstadt Europas sei. Das hat man wieder aufgenommen und gefragt, was dann werden würde aus den tschechischen Theatern und aus dem interessanten Pflaster für die Theaterleute.“

Kommen wir nochmals auf die deutsche Erstaufführung in Westberlin zurück: Damals war unter anderem zu hören, dass das Gartenfest trotz seiner unbestrittenen Qualität kein absurdes Theater sei…

„Die Kritiker äußern sich in den deutschen Rezensionen dazu und stellen fest, dass Stilmittel des Absurden in Havels Stück zu erkennen seien, dennoch ordnen sie es nicht dem Theater des Absurden aus dem Westen zu. Sie sehen da schon etwas Besonderes, und manche erkennen das ‚totalitäre System‘, auf das aus ihrer Sicht in diesem Stück angespielt wird, als Grundlage für die Satire. Andere Kritiker wiederum verstehen dieses Stück ganz klar als eine Satire - aber als solche, die allgemein zu verstehen ist, unabhängig vom Kontext der kommunistischen Tschechoslowakei.“

´Verständigung´
Wie war das Schicksal des Gartenfestes in den nachfolgenden Jahren?

„Nach der Erstaufführung des Gartenfestes kam das Stück in Deutschland noch in derselben Spielzeit fünfmal auf die Bühne. In der darauffolgenden Saison wurde es achtmal in Deutschland inszeniert und darüber hinaus auch schon in der Schweiz und Österreich. Da sieht man, wie sehr die Erstaufführung eingeschlagen haben muss, dass sich dieses Stück so schnell verbreitet hat. Danach aber wird es relativ schnell wieder ruhiger, und das liegt meiner Meinung nach vor allen Dingen auch daran, dass Havel mit ´Vyrozumnění´, auf Deutsch ´Verständigung´, sein zweites Stück schrieb – und das ist in Deutschland noch viel mehr rezipiert worden als das Gartenfest.“

Kann man vielleicht sagen, dass die Erstaufführung des Gartenfestes in Westberlin und nachfolgend auch in anderen deutschen Städten das virtuelle Sprungbrett war für den Import von Havel nach Europa?

Klaus Juncker  (Foto: du Vinage)
„Das kann man auf jeden Fall so sagen, und damit verbunden ist der Name von Klaus Juncker, dem Chef des Rowohlt-Theaterverlages in Reinbek bei Hamburg. Er hat sich sehr darum bemüht, das Stück zunächst nach Deutschland zu bringen und es von dort gewissermaßen weiter in die Welt zu tragen. Im Briefwechsel zwischen Klaus Juncker und Václav Havel kann man lesen, dass sogar überlegt wurde, dieses Stück aus dem Deutschen weiter zu übersetzen, damit es letztlich schneller in kleinere Sprachen übertragen werden konnte. Ich glaube aber, dass man davon Abstand genommen hat.“

Stichwort 1970er Jahre: Der Blick auf Václav Havel ändert sich…

„Im Grunde genommen kann man sagen, dass er sich schon nach 1968 ändert. Aber ganz deutlich wird dies in der Theaterzeitschrift ab Mitte der 70er Jahre. 1975 erscheint in ´Theater heute´ Havels offener Brief an Gustav Husák (Generalsekretär der Tschechoslowakischen Kommunistischen Partei und Staatsoberhaupt, Anm.d.R.) und wird dort auch besprochen. Für mich ist das ein klarer Hinweis darauf, dass Havel jetzt vor allem als politischer Autor wahrgenommen wird. Das zeigt sich auch darin, dass ein Stück wie ´Das Gartenfest´ zwar noch immer wieder mal inszeniert wird, doch nicht mehr in der Häufigkeit wie zwischen 1964 und 1966. Stattdessen spielt man ab Ende der 1960er Jahre, und das sind die meistgespielten Stücke Havels in Deutschland und dem deutschsprachigen Raum, vor allen Dingen seine ´Vaněk´-Trilogie.“

´Das Gartenfest´  (Foto: Archiv Radio Prag)
Sie haben Václav Havel und sein Theaterschaffen als Thema ihrer Doktorarbeit gewählt. Was haben Sie durch das Studium von Quellen und vielen Texten über ihn als Künstler und Menschen erfahren?

„Eine schwere Frage, weil mich natürlich in erster Linie seine Texte interessieren. Ich habe Ende der 1990er Jahre die ´Benachrichtigung´ von Václav Havel in Leipzig gesehen, und war sehr beeindruckt davon. Dann kam es, dass ich mich mit ihm beschäftigt habe. Was mich an Havels Texten besonders beeindruckt, ist sein Spiel mit der Sprache. Das finde ich toll.“

´Das Gartenfest´  (Foto: Archiv Radio Prag)
Das können Sie bestimmt auch deswegen beurteilen, weil Sie Tschechisch beherrschen?

„Sicherlich. Es ist schwer, Havels sprachliche Ideen, beispielsweise die Telegramme, die im ´Gartenfest´ ohne diakritische Zeichen verlesen werden, ins Deutsche zu übertragen. Es ist extrem schwierig und im Grunde eben nicht möglich. Das tschechische Original mit dem Tschechischen ohne diakritische Zeichen erinnert den tschechischen Leser oder Zuschauer im Theater eigentlich sofort an das Slowakische. Das kann man nicht so einfach ins Deutsche übertragen. Die Ideen, die er hatte, finde ich faszinierend. Umso mehr, wenn man sich vor Augen führt, wie alt beziehungsweise wie jung er damals war. Auch das haben die deutschen Kritiken immer wieder erwähnt – ein so junger Autor, von ihm werde man noch sehr viel hören. Das hat man ihm damals schon vorausgesagt.“

Neue Inszenierung des Gartenfestes  (Foto: Archiv des Nationaltheaters)
Er war damals 27 Jahre alt. Hat Václav Havel den heutigen, vor allem den jungen Menschen noch etwas zu sagen?

„Es gibt eine neue Inszenierung des Gartenfestes im Prager Ständetheater (Premiere war am 13. Juni 2013, Anm. d. R.) Das finde ich insofern spannend, weil sich genau dort für mich die Frage stellt, inwieweit man heute das Gartenfest so auf die Bühne bringen kann, dass es auch junge Zuschauer anzieht. Ich glaube, dass man das kann, weil ich selbst auch aufgrund des tschechischen Textes sagen würde, dass man heute immer noch Bezugspunkte findet und eben die Satire des Stücks auch auf die heutige Zeit übertragbar ist. Auch heute können wir immer wieder feststellen, wie Menschen mit Sprache manipulieren. Die grotesken Konstellationen, die wir in diesem Stück finden, lassen sich durchaus in ihrem Grundgedanken auf heute übertragen. Das Interessante ist für mich, dass im Westdeutschland der 1960er Jahre der tschechische Kontext auch nicht gegeben war. Und ich denke, dass heute eine Inszenierung im ursprünglichen tschechischen Kontext ebenfalls nicht mehr funktionieren würde.“