Unmut der Leidensfähigen: Warum 3000 tschechische Ärzte das Handtuch werfen wollen

Der vergangene Dienstag war in Tschechien ein Feiertag. Und obwohl ein Feiertag für alle frei sein sollte, darf das öffentliche Leben nicht lahmgelegt werden. Es sollten Busse und Bahnen fahren, Kaffees geöffnet haben. Auf das alles kann man im Ernstfall verzichten, aber nicht auf einen Arzt. Was aber wäre, wenn die Ärzte nicht mehr mitmachten? In ganz Tschechien drohen 3000 Ärzte am 31. Dezember gemeinsam zu kündigen, wenn das Gesundheitsministerium nicht die Arbeitsbedingungen der Ärzte verbessert. Iris Riedel hat nachgefragt, was die Ärzte so in Aufruhr versetzt.

Unendliche Linoleumflure, der Geruch von Desinfektionsmitteln, Patienten in rosa und türkisen Bademänteln – alles was zu einem Krankenhaus gehört. Nur Ärzte sind Mangelware, wie in Deutschland so auch in Tschechien. In der ganzen Tschechischen Republik fehlen 700 Ärzte. In tschechischen Krankenhäusern arbeiten insgesamt 16 000 Ärzte, 3 000 von Ihnen drohen Ende des Jahres zu kündigen. Die Aktion zu der die tschechische Ärztegewerkschaft aufgerufen hat, heißt: „Danke, wir gehen.“ Einer der Unterstützer ist der Kinderarzt Štěpán Sulek:

Štěpán Sulek
„Ich bin zufrieden, weil ich das tun kann, was mir Spaß macht. Auf der anderen Seite bin ich nicht zufrieden mit der Bezahlung meiner Arbeit und den Methoden, wie junge Ärzte vor ihrer Facharztprüfung an die Krankenhäuser gebunden werden.“

Sulek sitzt im Vorstand der Vereinigung „Junge Ärzte“. Vor allem bei den jungen Ärzten, also Hochschulabsolventen, die noch keine Facharztausbildung haben, stößt die Initiative „Danke, wir gehen“ auf Zustimmung. Denn sie können ihre verpflichtende Weiterbildung zum Spezialisten nur an einem Krankenhaus absolvieren. Diese Abhängigkeit werde von den Arbeitgebern schamlos ausgenutzt, ärgert sich Sulek.

„Diese Hochschulabsolventen bekommen ein Gehalt von 700 Euro brutto. Das tschechische Durchschnittseinkommen liegt bei 900 Euro. Dazu müssen die jungen Ärzte ein so genanntes Qualifizierungsabkommen unterschreiben, in dem sie sich verpflichten, noch fünf Jahre nach ihrer Facharztausbildung in diesem Krankenhaus weiterzuarbeiten. Wenn sie eher gehen, müssen sie die Kosten für ihre Ausbildung tragen.“

„Danke,  wir gehen“
Gerade an Krankenhäusern außerhalb der Hauptstadt Prag sind die Personalabteilungen der Krankenhäuser bestrebt, auf diese Weise Fachärzte nach ihrer Prüfung an die Klinik zu binden. Jana Dičáková macht ihre Spezialisierung zur Gynäkologin am Kreiskrankenhaus im nordböhmischen Liberec / Reichenberg. Sie ist vor Stellenantritt ein so genanntes Qualifizierungsabkommen eingegangen.

„Als ich frisch vom Studium kam und diesen Vertrag unterschrieben habe, hatte ich keinen Überblick, was wer eigentlich tut und vor allem ändert sich das von Tag zu Tag. Ständig kommen vom Ministerium neue Verordnungen und Entscheidungen, dann haben wieder die Entscheidungsträger gewechselt. Deshalb war ich damals ziemlich orientierungslos und ich denke, das Krankenhaus hat diese Situation auch ein bisschen ausgenutzt. Man wurde vor fertige Tatsachen gestellt. Ich konnte mir den Vertrag nicht mit nach Hause nehmen, mich mit jemandem beraten und ihn dann unterschrieben wieder mitbringen. Nein, gleich vor Ort. 'Das unterschreiben Sie jetzt und wenn nicht, können Sie hier nicht arbeiten.'“

Im Vertrag wurde Jana Dičáková zugesichert, dass das Krankenhaus die Kosten für Weiterbildungen, Praktika und Facharztprüfungen trägt. Im Gegenzug verpflichtete sich die junge Medizinerin, fünf Jahre nach abgeschlossener Spezialisierung weiterhin als Gynäkologin in Liberec zu arbeiten. Möchte sie ihren Arbeitsort vor Ablauf dieser Frist wechseln, muss sie dem Krankenhaus 400.000 Kronen zahlen, also reichlich 16.000 Euro. Ein ungleicher Handel. Denn jungen Ärzten werden im Allgemeinen nur Teilzeitstellen zugestanden, sie bekommen also nur einen Bruchteil des Gehalts, das ohnehin unter dem tschechischen Durchschnittseinkommen liegt. Ein finanzielles Polster können sie sich damit unmöglich zulegen, geschweige denn 16.000 Euro Entschädigung zahlen. Obwohl das die Summe ist, die das Krankenhaus in Jana Dičákovás Ausbildung investieren sollte, hat sie ihre bisherigen Weiterbildungen aus eigener Tasche gezahlt. Und die angestrebte Spezialisierung wird sie wohl auch erst mit einigen Jahren Verzögerung abschließen.

„Theoretisch könnte ich meine Facharztprüfung in zweieinhalb Jahren ablegen, aber praktisch ist das nicht zu schaffen. Einerseits habe ich noch nicht genug Operationen gemacht. Aber das ist nicht so problematisch, weil wir hier viel operieren dürfen. Andererseits sind wir viele junge Ärzte und alle müssen eine gewisse Zahl an Operationen und Weiterbildungen machen. Also muss ich warten, bis ich an der Reihe bin und das wird noch eine Weile dauern. Ich weiß es wirklich nicht, vielleicht habe ich die Prüfung in drei, vier Jahren, keine Ahnung.“

Foto: Tomasz Kobosz,  www.sxc.hu
Erst in drei bis vier Jahren also darf sich die Gynäkologin auch als solche bezeichnen und dann warten noch fünf Jahre auf sie, in denen sie dem Krankenhaus treu bleiben muss. Ihren Traum von einer Stelle in Prag wird sie sich frühestens als Mittdreißigerin erfüllen können. Aber nicht allein die lange Bindung an ein und denselben Ort und die schlechte Bezahlung treibt die Ärzte in Tschechien auf die Barrikaden. Es ist auch das alltägliche Ringen um Schlaf und ein Leben außerhalb des Krankenhauses. Fehlen Ärzte, müssen sie von den übrigen ersetzt werden. Perioden von bis zu drei Tagen, an denen Ärzte das Krankenhaus überhaupt nicht verlassen, sind keine Seltenheit. Schon jetzt steht die Versorgung der Patienten auf wackeligen Beinen, was passiert also, wenn ein Fünftel aller Ärzte auf einmal kündigt? Sollte das nicht ein wirksames Druckmittel sein? Štěpán Sulek gibt sich siegessicher:

„Ich denke, dass sicher um die 2000 Ärzte ihre Drohung wahrmachen. Besonders an den Bezirkskrankenhäusern, wo sie acht bis elf Schichten im Monat haben, nach denen sie nicht nach Hause gehen können. Das gefährdet die Patienten. Sie verdienen im Schnitt vier Euro die Stunde und auf ihre Arbeitsplätze wartet niemand, denn niemand wird mit dieser Ausbildung für diese Bezahlung arbeiten wollen. Es steht keine Armee von Ärzten hinter unserer östlichen Grenze, die sich über diese Plätze freut. Vor allem Ärzte aus den Regionen nahe der deutschen Grenze werden sich anschließen, also 2000 Ärzte Minimum.“

Das tschechische Gesundheitsministerium argumentiert, in Zeiten, in denen allen Angestellten des Staates die Gehälter gekürzt werden, sollten sich die Ärzte eher bescheiden zeigen als solche Forderungen zu stellen. Tatsächlich plant die konservative Regierung den allgemeinen Sparkurs auch bei den Ärzten anzusetzen und die Gehälter erfahrener Ärzte um bis zu 40 Prozent zu kürzen. Gleichzeitig räumt das Ministerium ein, dass die Verhältnisse an tschechischen Krankenhäusern nicht optimal sind. Das sei aber vielmehr eine Folge von Misswirtschaft in der jeweiligen Einrichtung.

„Das Ministerium sitzt die Angelegenheit bisher aus. Man glaubt, dass die Ärzte nicht bis zur letzten Konsequenz durchhalten beziehungsweise dass die Kündigungen das System nicht übermäßig belasten werden. Es wurde eine Änderung in Sachen Facharztausbildung angekündigt, aber daran arbeitet das Ministerium nun schon sechs Monate“, resümiert Sulek.

Mit einem solchen Habitus sind begehrte Arbeitskräfte in einem Europa der Freizügigkeit kaum zu halten. Štěpán Sulek wie Jana Dičáková erwägen seit längerem, in Deutschland ihr Glück zu versuchen. Und sie sind mehr als willkommen, wie Jana Dičáková bereits erfahren hat.

„Ich habe mehr oder weniger aus Jux einen Lebenslauf im Internet ausgefüllt, der auf Deutsch war. Eigentlich wollte ich das nur für mich ausdrucken, um es dann zu haben, wenn ich mich mal in Deutschland bewerben sollte. Aber der Lebenslauf wurde automatisch auf der Internetseite gespeichert. Und sofort am nächsten Tag, obwohl Wochenende war, haben sich Firmen bei mir gemeldet, die Ärzte aus Tschechien und der Slowakei für deutsche Kliniken rekrutieren. Und so ging es die nächsten Tage immer weiter, jeden Tag kam eine E-Mail oder ein Anruf. Ich habe das Gefühl, dass in Deutschland wirklich gesucht wird und deshalb werden hier Ärzte gezielt angesprochen und gelockt.“

Deutsche Krankenhäuser beauftragen Agenturen, die leeren Häuser wieder mit Personal zu füllen. Die Prager Agentur „Optima“ ist so eine Vermittlungsagentur. Hier betreut Lenka Klusová die Medizinersparte und über mangelnde Beschäftigung muss sie sich nicht beklagen.

„Das Interesse der tschechischen Ärzte ist auf jeden Fall in letzter Zeit gestiegen. Das merke ich an der Zahl der E-Mails und Telefonate. Wenn ich eine Prozentzahl nennen soll, würde ich sagen, die Steigerung liegt bei 20 bis 40 Prozent.“

Aber nicht jeder interessierte Arzt hat die sichere Aussicht auf einen Arbeitsplatz in Deutschland. Die tatsächliche Vermittlungsrate liegt bei 10 bis 20 Prozent, schätzt Lenka Klusová. Das liege zum einen am Fach - besonders gefragt sind Anästhesisten, Radiologen, Chirurgen, Psychiater und Neurologen – zum anderen stellen auch die deutschen Krankenhäuser immer noch bestimmte Forderungen, sodass „Optima“, das heißt Klusová, eine erste Vorauswahl trifft.

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„Der Bewerber muss einen Hochschulabschluss haben, das Fachgebiet ist wichtig, Berufserfahrung sollte er haben, aber auch Absolventen sind umworben. Und die Sprache, die sprachlichen Fähigkeiten sind sehr wichtig.“

Zwar lernen immer noch 30 Prozent der tschechischen Schüler Deutsch, jedoch ist Schuldeutsch nicht gleichzusetzen mit dem Niveau B2. Dieses Niveau des Europäischen Referenzrahmens für Sprachen bescheinigt dem Lerner fließendes, freies Sprechen und wird von den meisten deutschen Krankenhäusern erwartet. Deshalb ist Štěpán Suleks Plan, wenn sich an den Arbeitsbedingungen tschechischer Ärzte nichts ändert, am 31. Dezember seine Kündigung einzureichen und dann erst einmal sein Deutsch aufzupolieren. Viele seiner Kollegen haben es da eiliger. Das Goetheinstitut Prag hat in den vergangenen Monaten einen deutlichen Zuwachs an Ärzten bei den Vorbereitungskursen für die Prüfung B2 verzeichnet. Jana Dičáková plant bereits über diese Hürde hinaus.

„Wenn ich eine Stelle finde, die mir gefallen würde, dann gibt es erst ein Gespräch mit dem Chefarzt des Krankenhauses. Wenn wir beide einverstanden sind, kann ich drei Tage in dem Krankenhaus hospitieren und der Aufenthalt wird auch von der Vermittlungsagentur bezahlt. Und dazu bekomme ich noch einen Konsultanten zur Seite gestellt, der sich vor Ort auskennt und der mich auf das Vorstellungsgespräch vorbereitet. Und erst nach den drei Tagen kann man sich entscheiden, ob man Interesse hat oder eben nicht.“

Die Initiative „Danke, wir gehen“ macht die Kluft zwischen den europäischen Nachbarländern sichtbar. Was deutsche Ärzte für nicht zumutbar halten, ist für Tschechen und Slowaken nahezu optimal. Štěpán Sulek winkt ab:

„Den tschechischen Ärzten geht es nicht um hunderttausende Euro, sondern um eine normale Bezahlung, die ihnen eine gewisse Lebensqualität erlaubt. Eine 70-Prozent-Stelle und elf Schichtdienste im Monat entsprechen sicher nicht einer angemessen Belastung in diesem Beruf. Also, hier reden wir nicht über eine Erhöhung auf Managergehälter.“

Und Jana Dičáková fügt beinahe schuldbewusst hinzu: Vielleicht konnte es überhaupt nur soweit kommen, weil wir so eine idealistische Berufsgruppe sind... Warten bis der Notarzt kommt.