Václav Havels tiefe Spur in Tschechiens Politik und Gesellschaft
Die Verdienste des früheren Präsidenten Václav Havel lassen sich vor allem auf einen Nenner bringen: Er hat nicht nur in der Politik, sondern auch in der gesellschaftlichen Debatte viele Themen angeregt, die nach wie vor aktuell sind. Nicht immer waren allerdings seine Landsleute bereit, ihm dabei uneingeschränkt zu folgen.
Václav Havel hat tiefe Spuren in Tschechiens Politik und Gesellschaft hinterlassen. Er hat vor allem zu Beginn der 90er Jahre maßgeblich den Inhalt und auch den Stil der politischen Debatten in Tschechien geprägt. Es gab praktisch kein Thema, das er nicht angestoßen hätte: von außenpolitischen Fragen, über das Verhältnis zu den Nachbarländern oder den Umweltschutz, bis hin zur Frage der Integration der Roma. Immer wieder hat er dabei praktisch die gleiche Methode angewandt, wie schon vor 1989: Damals diskutierte man in kleinen Zirkeln von Intellektuellen und Gegnern des damaligen kommunistischen Regimes über alle wichtigen Fragen der Gegenwart. Diese Form wollte er auch auf die gesamtstaatliche Ebene übertragen.
Havel musste allerdings bald einsehen, dass zwischen den mehr oder weniger unverbindlichen Debatten unter Seinesgleichen und dem, was er sich als Präsident in Richtung der breiten Öffentlichkeit erlauben konnte und durfte, ein großer Unterschied bestand. So verfestigte sich schon früh nach Havels Amtsantritt als tschechoslowakischer Präsident in einigen damaligen Medien das Bild des Zauderers, der keine feste Meinung hat und von seinem engsten Umfeld leicht zu beeinflussen ist. In Wahrheit wollte Havel allerdings – so wie im Dissent – stets eine ergebnisoffene Debatte führen.
Das Verhältnis Havels zu den Medien und der Medien zu Havel kann wohl niemand so gut beurteilen wie die Journalistin und Autorin Petruška Šustrová. Als einstige Bürgerrechtlerin gehörte sie nach der Wende zum engen Beraterstab Havels auf der Prager Burg, wechselte dann aber in die Medien und war als Kommentatorin zahlreicher Zeitungen tätig. Über Havels Bild in den Medien sagte Šustrová im Gespräch mit dem Tschechischen Rundfunk:
„Wie Václav Havel in den Medien über viele Jahre hinweg dargestellt wurde, war nur eine von vielen Facetten seiner Persönlichkeit, das Gesamtbild war aber ganz anders. Er war ein Mensch, der – wie oft behauptet wurde – nicht nur im Ausland oder unter Intellektuellen Anerkennung fand, sondern auch beim so genannten gemeinen Volk. Die meisten waren sich der Bedeutung Havels für das ganze Land bewusst, für sie war er eben eine große Persönlichkeit.“
Tatsächlich wird Václav Havel auch heute noch in den Medien für Sachen verantwortlich gemacht, die er rein objektiv gar nicht oder nur sehr wenig beeinflussen konnte. Ein typisches Beispiel sind die Folgen des wirtschaftlichen Transformationsprozesses in Tschechien in den frühen 90er Jahren. Ebenfalls oft erwähnt wird auch die großzügige Amnestie, die der frühere politische Häftling Havel im Jahr 1990 erteilte, und die dann für den rasanten Anstieg der Kriminalität verantwortlich gemacht wurde.
Viele Anhänger Václav Havels haben ihm seinerzeit vorgeworfen, dass er nach seinem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt völlig verstummte und sich aus aktuellen politischen Debatten weitgehend herausgehalten hat. Hätte er sich auch nach 2003 mehr in der tschechischen Tagespolitik engagieren und sich öfter mit Stellungnahmen einbringen sollen? Dazu Petruška Šustrová:
„Ich bin vor allem der Auffassung, dass Václav Havel stets jemand war, der einem Stern oder einer Idee gefolgt ist, die tschechische politische Realität hingegen viel zu klein und beengt für ihn war. Havels Horizont reichte wesentlich weiter. Zudem war er auch fest davon überzeugt, dass man niemals jene Ziele und Ideen aufgeben darf, die man das ganze Leben lang verfolgt hat. Was er das ganze Leben lang verfolgt hat, war der Schutz der Benachteiligten, der Hilflosen. Deshalb hat er immer wieder Dissidenten in der ganzen Welt unterstützt, etwa in Weißrussland. Gott sei Dank gab es Havel, der die Türen der beschränkten tschechischen Politik ein wenig geöffnet hat.“
Zu jenen Persönlichkeiten, die Havel schon aus der Zeit vor der Wende kannten und mit ihm zusammen den Kreis der Bürgerrechtler rund um die Charta 77 bildeten, gehört ebenfalls auch der einstige tschechische Regierungschef und heutige Vizepräsident des Senats, Petr Pithart. Für Havels spätere Politik-Abstinenz hat er folgende Erklärung parat:
„Als ehemaliger Präsident hätte er wohl oder übel zum jetzigen Präsidenten Stellung beziehen müssen. Und das wollte Havel nicht. Er wollte nicht als einer verstanden werden, der systematisch seinen Nachfolger kritisiert. Zudem hätte sich der jetzige Präsident die Reaktionen seines Vorgängers nicht gefallen lassen und es hätte den Anschein gehabt, als ob diese beiden Größen irgendeine persönliche Auseinandersetzung führten. Dazu war Václav Havel zu sensibel und edel, als dass er sich an solchen Kämpfen beteiligt hätte. Schade.“
Im Ausland bekannt geworden ist Václav Havel nicht zuletzt auch wegen seines Konzeptes der so genannten „unpolitischen Politik“. Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch erscheint, bedeutet nichts anderes, als dass er die Politik und politisches Engagement nicht nur auf eine enge Gruppe von Berufspolitikern beschränken wollte. Er sah vielmehr die breite Gesellschaft in der Pflicht, sich politisch einzubringen.Vor allem die politischen Parteien, die sich in Tschechien schon sehr bald nach dem auch in Europa üblichen Links-Rechts-Schema herauszubilden begannen, verfolgten dieses Konzept mit großem Argwohn. Wäre Havel im Stande gewesen sich zu einem klassischen Politiker zu entwickeln und zum Beispiel eine politische Partei anzuführen? Dazu Petr Pithart:
„Er hatte diese Möglichkeit, und zweifelsohne gab es viele Persönlichkeiten, die ihn dazu aufgerufen haben. Er hat dies aber deshalb nicht getan, weil er ahnte, dass er dank seinem Amt, das prinzipiell unparteiisch geführt werden sollte, weitaus größere Möglichkeiten gehabt hätte wird sich an die Öffentlichkeit zu wenden, als wenn er einer der vielen Rivalen auf der politischen Spielwiese gewesen wäre.“
Ähnlich sieht das auch die Journalistin Petruška Šustrová:
„Ich denke, dass er für dieses Land als Präsident weitaus mehr getan hat, als er als Führer einer politischen Partei hätte erreichen können. Selbst wenn diese Partei noch so vollkommen gewesen wäre, würde er wohl kaum so viel erreichen, wie er als formal parteiloser Präsident in den zwei Jahrzehnten erreicht hat.“
Ein wichtiger Bereich, den Havel kraft seines Amtes und des daraus resultierenden öffentlichen Ansehens nachhaltig geprägt hat, war das tschechische Verhältnis zum Ausland. Es ist vor allem sein Verdienst, dass die tschechische Außenpolitik einen wichtigen Akzent auf die weltweite Wahrung der Menschenrechte legt, auch wenn das bei einigen Partnern zu einigem Unverständnis geführt hat, wie der frühere Bürgerrechtler und heutige Vizepräsident des Senats Petr Pithart erläutert:„Wir werden in der Europäischen Union oft als Unruhestifter angesehen, weil uns das Schicksal der Regimekritiker auf Kuba oder anderswo nicht egal ist, während andere Länder dieses Thema nicht mehr so stark in den Vordergrund stellen und mit Kuba lieber gute Geschäfte machen wollen – von China ganz zu schweigen.“