Von Norddeutschland nach Karviná - Zukunft in einer Stadt ohne Zukunft
Von Schleswig-Holsteins Ostseeküste ins osttschechische Karviná ziehen, eine schmuddelige Stadt in Schlesien mit Bergbau, Schwerindustrie und hoher Arbeitslosigkeit? Viele Menschen flüchten aus Karviná Richtung Westen. Familie Wendel hat den umgekehrten Schritt gewagt. Barbara Wendel, gebürtige Tschechin, ist damit zurückgekehrt in ihre Heimatstadt. Ihr Mann Thomas aber, ein deutscher Konditor, ging ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang ein. Und Tochter Julia musste von heute auf morgen von einem deutschen Kindergarten auf eine tschechische Schulbank wechseln. Ein Bericht über eine seltene Form von Arbeitsmigration, nämlich von West nach Ost.
„Zastav to“– „Schalt den Lärm ab“, ruft die Kollegin lachend.
Thomas Wendel drückt auf einen Knopf. Mit dem Tschechischen klappt das immer besser.
„Na práci to stačí“– „Für die Arbeit reicht es“. Aber was er vermisse, das sei echtes Lübecker Marzipan:
„Mit diesem Milchmarzipan, das hier in Tschechien hergestellt wird, damit kann ich mich persönlich nicht so anfreunden. Das ist eine feste Masse, die man ab und zu mal in die Mikrowelle schieben muss, damit man sie nachher gut bearbeiten kann.“
Ein Überbleibsel der sozialistischen Mangelwirtschaft. Der große, freundlich dreinblickende Mittvierziger von der schleswig-holsteinischen Ostseeküste arbeitet seit fünf Jahren in der Konditorei im schlesischen Kohlerevier Karviná. Seine Frau Barbara stammt ursprünglich aus diesem östlichen Winkel Tschechiens. Karviná ist eine sterbende Stadt der Superlative in Tschechien: höchste Arbeitslosigkeit, höchste Kriminalitätsrate, höchste Smogbelastung. Wer hier bleibt, ist selber schuld, wer hierhin zieht, dem ist nicht mehr zu helfen – so denken viele junge Leute.„Man sieht hier die Zukunft eher schwarz“, bestätigt Barbara Wendel, während sie durch Ihr Plattenbauviertel führt. 88 Prozent der Einwohner leben auf Platte. „So wie die Kohle: eben schwarz.“Aber gerade hier hat das Ehepaar Wendel mit seiner damals sieben Jahre alten Tochter noch mal ganz von vorne angefangen. Thomas Wendel hat Arbeit gefunden, und Arbeit war das, was er in Deutschland verloren hatte:
„Nach 13,5 Jahren gab es einen Chefwechsel. Und der neue Chef, der hat das dann tatsächlich geschafft, den Laden in eineinhalb Jahren abzuwirtschaften. Und das war natürlich bitter. Und dann ging eben die Frage um, was machen wir jetzt?“
Die Familie setzte sich zusammen und fasste eine Entscheidung. Thomas Wendel:„Wenn nicht diese ganze Geschichte mit meiner Firma gewesen wäre, mit Insolvenz...“
Barbara Wendelová entgegnet:
„Dann wären wir doch in Neustadt geblieben. Auf die Idee bist Du gekommen.“
Ja, bestätigt der Konditor, es sei seine Idee gewesen. Es habe ja weiter gehen müssen, so der Familienvater. Seine Frau war aber doch überrascht von seiner Idee:
„Ich hätte nie gedacht, dass Thomas mit der Idee kommt, dass wir als Familie umziehen würden, dass er das ernst meint.“Und es ging weiter: 1000 Kilometer, Kurs Ost-Südost. Die Stelle in der Konditorei organisiert Frau Wendel über Bekannte. Mit Händen, Füßen, Stift und Papier verständigt sich Thomas Wendel am neuen Arbeitsplatz. Was nicht klappt war die Anpassung an eine andere Mentalität und Arbeitsauffassung. Daran drohte alles zu scheitern, so Thomas Wendel:
„Ich hatte Veränderungen in der Firma vorgeschlagen. Es ist hier alles sehr, wie soll man sagen, altsozialistisch. Auf Deutsch: In der Konditorei mochte keiner den Mund aufmachen, wenn irgendwas nicht gepasst hat, sondern man hat das alles ein bisschen in sich hineingefressen, und das ist nicht so meine Art.“
Zu geringer Lohn, ineffektive Planung des Dreischichtbetriebs, schlechtes Arbeitsklima, ergänzt Wendel:
„Erstens wurde damals in der Konditorei zu wenig verdient. Zweitens mochte ich es nicht, wenn wir Spätschicht gearbeitet haben und mussten dann am Sonnabend zur Frühschicht. Denn Sie müssen ja nach der Arbeit um 21 Uhr erst nach Hause, dann sollen Sie ja auch noch ein paar Stunden schlafen und müssen aber morgens um fünf schon wieder bei der Arbeit sein. Und dann ging es ja halt um das Zwischenmenschliche, wie das Arbeiten ist, wie die Arbeit aufgeteilt wird, dass unsere Leiterin immer Druck ausgeübt hat, obwohl es dafür überhaupt keinen Grund gab.“Thomas Wendel sucht das Gespräch mit der Betriebsleiterin – aber ohne Erfolg. Widerworte – das hat es hier noch nicht gegeben. Er lässt aber nicht locker und wendet sich per Brief an den Direktor:
„Weil ich denen das auch nicht beibringen konnte, dass man, wenn man den Mund aufmacht, Veränderungen erreichen kann.“Das Risiko als deutscher „Besserwessi“ gefeuert zu werden, war groß. Aber:
„Ich habe das Glück gehabt, dass der Direktor auf diesen Zug aufgestiegen ist und gesagt hat: Ja, ich sehe ein, es muss Veränderungen geben. Ja, und dann sind die Veränderungen peu a peu gekommen. Aber der Druck von meinen Kolleginnen war damals so groß...“, erinnert sich Thomas Wendel ungern. Seine Frau aber stärkt ihrem Mann den Rücken:
„Ich fand meinen Mann sehr mutig. Ich habe wirklich nur gehofft, das alles gut wird.“
Und es wurde gut – die Familie hatte das erste krisenhafte Jahr in Karviná überstanden, Thomas Wendel ist nun seit vier Jahren unbefristet angestellt. Auch die Familie hat sich eingelebt, wie Barbara Wendelová sagt:„In Deutschland haben wir zu Hause eigentlich nur Deutsch gesprochen. Und seit wir umgezogen sind, kam eben dieser Mischmasch dazu, dass ich mit Julia immer öfter Tschechisch spreche.“
Julia erinnert sich noch gut an den ersten Monat in Karviná. Sie konnte kein Tschechisch, die Großeltern kein Deutsch:
„Wenn ich Frikadellen wollte, dann habe ich ´frikadelky´gesagt. Oma hat eine halbe Stunde irgendwo im Wörterbuch geguckt. Und dann: Ah! Karbanátky! Teď to chápu. Irgendwie haben wir das immer geschafft.“Heute plappert sie fließend Tschechisch, in der Schule gehört sie zu den Besten. Und dennoch - Karviná kann für Julia Wendel auf Dauer keine Heimat werden, sie sieht ihre Zukunft in Deutschland, wo sie später studieren möchte.
„Ich weiß ja: Hier unter dem Haus ist Kohle. Und das wird nicht lange dauern, dann kommt das auch weg. Das kann 10 Jahre, 20 Jahre, 30 Jahre dauern. Aber irgendwann kommt das. Mein Opa, der weiß das ja, wo überall Kohle ist. Der weiß auch, dass eben unter dem Haus Kohle ist. Und man weiß nie, wie lange das noch dauert.“
Dieser Beitrag wurde am 21. März 2013 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.