„Vorübergehend“ bedeutete 21 Jahre: die Sowjettruppen in der ČSSR
Am 18. Oktober 1968 wurde der Vertrag zwischen der Tschechoslowakei und der Sowjetunion über die sogenannte „zeitweilige Unterbringung der sowjetischen Truppen in der ČSSR“ unterzeichnet. Damit legalisierten beide Seiten im Nachhinein die militärische Niederschlagung des „Prager Frühlings“ im August desselben Jahres. Der Begriff „zeitweilig“ wurde später zu einem Symbol für die Herrschaft des kommunistischen Regimes bis zur Wende 1989.
Die Politiker in Prag rechneten noch im September damit, dass alle Truppen innerhalb eines Jahres in drei Etappen abgezogen würden; Moskau lehnte dies jedoch ab. Bei den Verhandlungen bestanden die sowjetischen Vertreter darauf, dass die Tschechoslowakei die Stationierung der Truppen - je nach Lage - praktisch auch unbefristet akzeptieren müsste. Einwände dagegen wurden nicht zugelassen. Der entsprechende bilaterale Vertrag wurde am 16. Oktober 1968 in Prag unterzeichnet und zwei Tage danach im tschechoslowakischen Parlament verabschiedet.
Hauptgrund, warum die Sowjets in der Tschechoslowakei bleiben wollten, waren die geopolitischen Interessen Moskaus in Europa. Die Rote Armee stand damit ganz nah am „Eisernen Vorgang“. Im Vertrag wurde ganz offen formuliert, man müsse sich der Erstarkung von „revanchistischen“ Kräften in der Bundesrepublik Deutschland in den Weg stellen. Milan Bárta vom Institut für das Studium totalitärer Regime:„Die sowjetischen Generäle hatten sich schon lange darum bemüht, eigene Truppen in der Tschechoslowakei zu stationieren und so die Verteidigungslinie der Sowjetunion nach Westen zu verschieben. Die Ereignisse im Jahre 1968 boten ihnen eine gute Gelegenheit, die sogenannte ‚mittlere Gruppe’ ihrer Truppen aufzustocken. Diese Gruppe war nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und umfasste die sowjetischen Armeen in Ungarn und Österreich. Österreich hatten die Sowjets jedoch 1955 wieder verlassen müssen. 13 Jahre später gelangten sie stattdessen in die Tschechoslowakei, was ihnen eine ausgezeichnete strategische Lage bot. Hier waren die Sowjets in Schussweite der amerikanischen Truppen in Westdeutschland.“
Moskaus militärische Kraft in der Tschechoslowakei war gewaltig: Sie umfasste 1220 Panzer, 2500 Kampffahrzeuge, 76 Flugzeuge, 146 Hubschrauber und 75.000 Soldaten. In den 80er Jahren wurde dazu noch eine Brigade stationiert, die über Raketen mit Atomsprengköpfen wachen sollte. Ob solche Sprengköpfe aber wirklich jemals in die Tschechoslowakei gelangt sind, das ist bis heute umstritten. Der ehemalige tschechoslowakische Regierungschef Lubomír Štrougal schrieb in seinen Memoiren, dass die Sowjetunion nur den Anschein erwecken wollte, in Wirklichkeit seien aber niemals Atomraketen in der ČSSR stationiert worden.Unklar ist auch, wie viel Geld der Aufenthalt der sowjetischen Truppen eigentlich gekostet hat. Die Kosten sollte laut dem Vertrag eigentlich Moskau tragen, Prag stellte jedoch seinen kommunistischen „Brüdern“ vieles zur Verfügung, wie Milan Bárta betont.
„Teilweise wurden ältere Kapazitäten der tschechoslowakischen Armee genützt, vor allem Dutzende Kasernen mussten innerhalb kürzester Zeit freigemacht werden. Dies war dringend, damit die sowjetischen Truppen die Wohnungen in Städten und Dörfern verlassen konnten. Die direkten Kosten dieser Operation schätze ich auf etwa eine Milliarde damaliger Kronen. Nur zur Illustration: Zu Ende der 60er Jahre betrug der Durchschnittslohn hierzulande 1700 Kronen und ein Brot kostete 2,60 Kronen. Die sowjetische Armee erhielt zudem Flugzeuge, Treibstofflager und Krankenhäuser. Für die Familienmitglieder der sowjetischen Offiziere wurde in Milovice bei Prag praktisch eine ganze Stadt neu errichtet. Als nach der Wende die tschechoslowakische Regierung ihre Forderungen an die Sowjetarmee bezifferte, kam sie auf eine Summe von fast 15 Milliarden Kronen.“ Die Tschechoslowakei musste zudem die Truppen auch verköstigen, das erwies sich als Verlustgeschäft. Grund war der ungünstige Wechselkurs, der im erwähnten Vertrag festgelegt wurde. Deswegen gingen der Tschechoslowakei laut Historikern mehrere Hundert Millionen Kronen verloren.Mit dem Aufenthalt der sowjetischen Truppen waren jedoch nicht nur finanzielle Verluste verbunden. Die führenden Politiker beider Staaten wussten, dass die Soldaten bei der tschechoslowakischen Bevölkerung äußerst unbeliebt waren. Die Rote Armee wollte daher ein freundliches Gesicht zeigen: Sie gründete Partnerschaften mit den Schulen und Betrieben und ermöglichte den freien Zutritt zu einigen Kasernen. Die Kontakte waren sowohl offizieller als auch inoffizieller Art, erläutert Milan Bárta.
„Die Regeln für den Besuch waren bei den einzelnen Garnisonen unterschiedlich, und sie änderten sich auch mit der Zeit. Es wurden Gruppenreisen dorthin organisiert, üblicherweise waren diese auch mit Einkaufsmöglichkeiten verbunden. Wie frei man sich auf dem Gelände bewegen durfte, hing immer auch vom Befehlshaber der Garnison ab. Militärische Gebäude waren natürlich nicht zugänglich, aber die Geschäfte standen offen zum Besuch. Diese Läden waren ausgezeichnet versorgt, man konnte dort zum Beispiel Kosmetika aus den sogenannten ‚imperialistischen’ Staaten kaufen, diese gab es normalerweise nicht. Die Reisen waren deshalb ziemlich beliebt. Darüber hinaus blühte auch der Schwarzmarkt. Die Soldaten boten vor allem Benzin und Zigaretten an, manche von ihnen wollten besonders Mädchen aus der Gegend kennenlernen. Es bestanden also zahlreiche Kontakte zwischen Soldaten und Zivilisten, beide Seiten mussten einen Modus vivendi finden.“ Dieses Verhältnis war jedoch von Widersprüchen geprägt. Die sowjetischen Soldaten sahen es als Glück an, wenn sie in der Tschechoslowakei dienen konnten. Sie hatten genug Geld, durften ihre Garnisonen auch verlassen und sich relativ im Land frei bewegen. Der Lebensstandard in der Tschechoslowakei war mit dem in Westeuropa zwar nicht zu vergleichen, im Ostblock gehörte er jedoch zu den höchsten. Zeitzeugen haben beispielsweise berichtet, wie eine „Wolga“-Karosse vor einem Geschäft anhielt und ein sowjetischer Offizier dort so viele Waren einkaufte, wie ins Auto hineinpassten. Die Ware fehlte dann aber der örtlichen Bevölkerung. Auch solches Verhalten führte zu Gehässigkeiten. Wie bereits gesagt, war die Dauer des Aufenthaltes der sowjetischen Truppen nicht befristet. Der Abzug der Soldaten wurde auch dann nicht zum Thema, als in der Sowjetunion der Reformer Michail Gorbatschow an die Macht gekommen war.„Nach dem Aufstieg von Michail Gorbatschow kam es zu einer Art ‚Tauwetter’ in der internationalen Politik. Die Zahl an Atomwaffen und auch Soldaten in Osteuropa wurde verringert. Das Kontingent in der Tschechoslowakei sollte um etwa ein Fünftel reduziert werden, was wirklich schrittweise geschah. Der komplette Abzug kam aber nicht in Frage, denn die Sowjetunion wollte nicht auf ihre Rolle als Weltmacht verzichten. Ihre Armee in der Tschechoslowakei diente als Gegengewicht zu den amerikanischen Truppen in Westdeutschland“, sagt Milan Bárta.
Die sowjetische Weigerung, ihre Truppen aus den ostmitteleuropäischen „Satellitenstaaten“ abzuziehen, hatte auch praktische Gründe: Für die Soldaten gab es in ihrer Heimat keinen Platz, vor allem fehlten Häuser und Arbeit. Es war auch nicht einfach, die ganze Militärtechnik wieder zurückzubringen. Dies waren im Übrigen auch die Argumente Moskaus nach der Wende 1989, als die tschechoslowakische Führung mit dem Kreml verhandelte. Während Prag den Abzug so schnell wie möglich wollte, beharrten die Sowjets auf einem weichen Zeitplan. Doch letztlich verließen die Truppen dann doch die Tschechoslowakei so schnell wie kein anderes ehemaliges Land des Warschauer Paktes: Der letzte sowjetische Soldat verabschiedet sich am 27. Juni 1991.