Was die Toten den Lebenden erzählen

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Orte, an denen sich die tschechisch-deutsche Geschichte der letzten Jahrhunderte und Jahrzehnte abgespielt hat, gibt es in Prag unzählige. Der ehemalige deutsche evangelische Friedhof in Prag im Stadtteil Strasnice ist ein ganz besonderer Ort. Seine Einzigartigkeit besteht vor allem darin, dass er jahrzehntelang vergessen wurde und dadurch bis heute in seiner ursprünglichen Form, wahrscheinlich aus dem Jahr 1795, erhalten geblieben ist. Ein Geschichtsmonument ganz besonderer Art. Was die Toten den Lebenden erzählen - so das Motto der nun folgenden neuen Kapitels aus der tschechischen Geschichte von und mit Anne Lungova.

Auf den ersten Blick wird, wer über die Mauern der kleinen, von Bäumen bewachsenen Anlage schaut, dahinter kaum jemand einen Friedhof vermuten. Gräber und Gruften sind dicht mit Efeu überwachsen, Himbeersträucher und dichtes Laub liegen auf den Wegen, die sich fächerartig in alle Himmelsrichtungen ausbreiten. Erst beim näheren Hinsehen sind einzelne Grabsteine, Namensinschriften und Daten zu erkennen. Dass die Eintragungen in Deutsch geschrieben sind und deutsche Namen wie Schulze, Metzger oder König überwiegen, weist auf eine Entstehungszeit hin, in der Deutsche in Prag gelebt haben und gestorben sind.

Das älteste erhaltene Grab der 598 Gräber und 54 Gruften, die im Friedhofsverzeichnis vermerkt sind, ist das Grab von Eduard Stickel aus dem Jahr 1828. Da Friedhöfe in jener Zeit nach ethnischer Gruppenzugehörigkeit und konfessioneller Glaubenszugehörigkeit aufgeteilt waren, kann man annehmen, dass Familie Stickel der evangelischen Minderheit angehörte. Deutsche und Tschechen wurden getrennt und auf unterschiedlichen Friedhöfen bestattet. Doch im Gegensatz dazu zeichnete sich das tschechisch-deutsche Zusammenleben bis Mitte des 19. Jahrhunderts durch ein friedliches Miteinander aus. Die Dominanz der deutschen Sprache in Ämtern, Schulen und der katholischen Kirche unter den Habsburgern, hatte nach dem dreißigjährigen Krieg zur Folge, dass sich in Prag im Laufe der Zeit eine deutschsprachige Elite herausbildete.

Von 100 000 Einwohnern der Stadt Prag waren im Jahr 1846 mehr als die Hälfte Deutsche. Einer von Ihnen, der Fabrikant Moritz Groebe, wurde im März 1891 auf dem deutschen evangelischen Friedhof begraben. Er leitete den Ausbau der österreichischen Eisenbahnen von Prag über Budweis nach Tabor und hinterließ ein Anwesen, das bis heute unter dem Namen "Groebe-Villa" ein Begriff in Prag ist. Moritz Groebe gehörte einer Generation an, die den Wechsel vom freundlichen Miteinander tschechischer und deutscher Kultur und Wirtschaft zu einem größtenteils feindlichen Nebeneinander der Nationen miterlebt hat. Die nachfolgende Generation, zu denen der bedeutende österreichische Geologe Viktor Uhlig, gehörte, lernte bereits getrennt von der tschechischen Universität an der deutschen technischen Hochschule in Prag.

Obwohl die Anzahl der in Prag lebenden Deutschen auf sieben Prozent der Gesamteinwohnerzahl im Jahr 1910 gesunken war, nahmen die Konflikte und gewalttätigen Übergriffe zwischen tschechischen und deutschen Gruppen zu. Der 1918 neu entstandene tschechoslowakische Staat mit seinem demokratisch verankerten Schutz der Minderheiten konnte nicht verhindern, dass sich breite Kreise der deutschen Minderheit auf die Seite der aufstrebenden Nationalsozialisten schlugen und sich in den darauf folgenden Jahren gegen die Tschechoslowakei und für Hitler entschieden. Das Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 und die Aufhebung der deutschen evangelischen Gemeinschaft in Prag bedeutete gleichzeitig das Ende des deutschen evangelischen Friedhofs.

Endgültig sollte der Friedhof nach dem Beschluss der staatlichen Friedhofsleitung im Jahr 1956 aufgelöst werden. Stattdessen wurde die Friedhofskapelle der Tschechoslowakischen Hussitischen Kirche, die 1920 aus einem Reformflügel der katholischen Kirche als selbständige Kirche hervorgegangen ist, am 28. Oktober 1956 übergeben. Ihr Pfarrer, Josef Spak, berichtet von einer weiteren Besonderheit des Friedhofs:

"In der Friedhofskapelle befindet sich auch das Kolumbarium unserer Gemeinde. Das ist in unserer Kirche eine Spezialität; weil wir nach der Entstehung der selbständigen Kirche keine Möglichkeit hatten, unsere Mitglieder auf den damals katholischen Friedhöfen zu bestatten. Dann haben wir die Feuerbestattung gewählt. Das war damals sehr progressiv. Wir haben in unseren Gemeinderäumen die so genannten Kolumbarien gebaut. "

Dieser Fortsetzung von Bestattungen in der Friedhofskapelle, in der die Urnen mit der Asche der verstorbenen Gemeindemitglieder bis heute aufbewahrt werden, ist es unter Umständen zu verdanken, dass der Friedhof als solcher erhalten blieb. Dass der Friedhof zwar verlassen, aber dennoch belebt ist, berichtet Pfarrer Josef Spak:

"Noch eine Spezialität bei diesem Friedhof. Er ist schon lange Jahre ganz verwüstet und in dem Haus des früheren Verwalters wohnen jetzt sechs oder sieben Obdachlose und ein Paar von ihnen, also ein Mann und eine Frau, haben sich sogar in einer Gruft eingesiedelt, die die Gestalt einer Kapelle hat. Sie haben einem Reporter gesagt: Wir leben in dieser Gruft zu sechst. Vier sind unter dem Boden und wir zwei sind da oben eingesiedelt."

Der Friedhof an sich ist, so wie er erhalten ist, ein besonderer Ort. Nicht nur für die wenigen Angehörigen, die bis heute die Gräber ihrer Verwandten, die auf dem Friedhof begraben liegen, besuchen, sondern für alle, die etwas über die vergangenen Zeiten hören und sehen wollen, statt sie zu vergessen. Im Jahr 2002 erklärte das Kulturministerium den Friedhof zum Kulturdenkmal. Der Friedhof, so die Begründung, stelle die Bestattungspraxis des 19. und 20. Jahrhunderts dar, und ist in der Hauptstadt Prag ohne Gleichen.

Damit der Friedhof erhalten bleibt, rechnet die Friedhofsverwaltung in Prag für die nächsten Jahre mit einer umfangreichen Restaurierung und Nutzung als Friedhof für Urnenbestattungen. Ob der bisherige Charakter des Friedhofs erhalten werden kann, bleibt zu hoffen.

Doch auch vor vergessenen Orten macht die Geschichte nicht halt. Im Rahmen des internationalen Programms der Filmhochschule Prag sind in diesen Tagen Studenten und Studentinnen und Studenten der New Yorker Filmhochschule zu Gast. Ein Teil ihres Programms besteht aus dem Drehen eines 35mm Kurzfilms. Eine junge Studentin hat sich für ihre Adaption eines Märchens von Hans Christian Andersen eine besondere Kulisse ausgedacht: den deutschen, evangelischen Friedhof in Prag. Die Szenen mit dem kleinen Mädchen, das an einem der Gräber kniet, spielen sich vor dem Kreuz am Eingang des Friedhofes ab. Auf dem Kreuz steht in schief hängender, deutscher Schrift: "Ich bin die Auferstehung...". Man möchte ergänzen: ... und das Leben!

Foto: Autorin