Wie sich die Tschechoslowakei teilte: die Auflösung des Bundesparlaments
Nur rund ein halbes Jahr brauchten Tschechen und Slowaken, um ihren gemeinsamen Staat aufzulösen. Einer der entscheidenden Schritte fand Ende November 1992, also vor 20 Jahren statt: Das gemeinsame Bundesparlament löste sich selbst auf.
Viel wurde seither über den Modellcharakter dieser friedlichen Trennung gesprochen – er galt als Muster für Staaten, in denen Konflikte zwischen den Völkern oder Religionen tobten. Auch die Tschechen und Slowaken glaubten ihre gegensätzlichen Haltungen in den ersten Jahren nach der Wende immer weniger auf einen gemeinsamen Nenner bringen zu können und wählten einen radikalen Schritt: die Auflösung des Staates.
War dieser Beschluss der Abgeordneten des Bundesparlaments unausweichlich? Gab es noch Versuche den Staat in letzter Minute zu retten? Wie beurteilen einige Akteure jener Zeit ihre damalige Entscheidung? Diese und andere Fragen standen bei einer wissenschaftlichen Konferenz im Vordergrund, die in den vergangenen Tagen im Gebäude des früheren tschechoslowakischen Bundesparlaments in Prag stattfand. Organisiert wurde das Treffen vom Historiker Tomáš Zahradníček vom Institut für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften. Gab es also damals im November 1992 noch einen Willen die Tschechoslowakei zu erhalten?„Es scheint, dass es damals niemanden mehr gegeben hat, der bereit und im Stande war, den gemeinsamen Staat am Leben zu halten. Es gab auch keinen Plan für eine Zukunft des gemeinsamen Staates der Tschechen und Slowaken. Ich denke, dass es in jenen Herbsttagen des Jahres 1992 bereits nur noch um die Frage ging, wie sich die Trennung beider Völker am elegantesten vollziehen lässt. Aus rechtlicher Sicht musste natürlich alles so geregelt werden, dass der Trennungsbeschluss später nicht angezweifelt werden konnte. Aber andere Varianten, als die Auflösung der Tschechoslowakei, waren seinerzeit gar nicht mehr im Spiel, weil niemand einen Alternativplan vorlegen konnte“, so Tomáš Zahradníček.
Das tschechoslowakische Bundesparlament, die so genannte Föderale Versammlung, bestand aus zwei gleichberechtigten Kammern: der 150-köpfigen Volkskammer und einer ebensogroßen Kammer der Nationen. In der Kammer der Nationen waren Tschechen und Slowaken gleich stark vertreten, also mit jeweils 75 Abgeordneten. Zudem stimmten der tschechische und des slowakische Teil stets getrennt ab, damit eine Volksgruppe nicht von der anderen überstimmt werden konnte. Dieses auf den ersten Blick etwas komplizierte Konstrukt war ein Relikt aus kommunistischer Zeit, als die Parlamentarier praktisch nur die Beschlüsse abnickten, die vorher bereits von der Führung der Kommunistischen Partei abgesegnet wurden. Eine richtige und vor allem freie Streit-Kultur konnte sich somit erst nach der Wende etablieren. Dabei gehörten Fragen, die das zukünftige gemeinsame Verhältnis von Tschechen und Slowaken betrafen, zu den am heftigsten diskutierten. Das begann schon mit dem legendären Streit über die offizielle Staatsbezeichnung und endete mit dem Beschluss über die Auflösung der Tschechoslowakei. Lässt sich im Nachhinein rekonstruieren, in welcher Atmosphäre diese Abstimmung stattfand? Machte sich unter den Abgeordneten Resignation breit? Tomáš Zahradníček:„Was heißt Resignation? Das hätte eine gewisse Verzweiflung vorausgesetzt. Ein Teil der Gesellschaft verband mit der bevorstehenden Trennung der Tschechoslowakei relativ große Hoffnungen. Es sollte ja schließlich auch etwas Neues entstehen. Wir dürfen nicht vergessen, dass zu jenem Zeitpunkt der gemeinsame Staat langsam aber sicher praktisch zu existieren aufhörte. Auch ohne einen formellen Auflösungsbeschluss wäre die Tschechoslowakei auseinandergefallen. Dann hätte es wohl die paradoxe Situation gegeben, dass im Gebäude des Bundesparlaments am oberen Teil des Prager Wenzelsplatzes zwar nach wie Abgeordnete ein- und ausgegangen wären, ihr Staat aber nicht mehr bestanden hätte.“
Trotz dieses Beschlusses blieben aber viele Angelegenheiten noch über Monate, sogar Jahre hinweg Gegenstand von bilateralen Verhandlungen. Es ging zum Beispiel um die Aufteilung des gemeinsamen Eigentums, der Goldreserven der Nationalbank, oder – nicht zuletzt – auch über den genauen Verlauf der gemeinsamen Grenze.Kein Thema war damals übrigens, dass das Volk über den Fortbestand der Föderation in einem Referendum entscheiden könnte. Warum eigentlich? Hatte die Entwicklung bereits solch eine Dynamik, dass sie nicht mehr aufgehalten werden konnte? Der Historiker Zahradníček hat noch weitere Erklärungen:
„In den mehr als sieben Jahrzehnten, in denen die Tschechoslowakei als Staat bestand, wurde nie etwas auf Grund einer Volksabstimmung beschlossen – auch nicht die Gründung der Republik. In dieser Hinsicht war es nur konsequent, dass auch die Auflösung nur im Parlament beschlossen wurde. Daneben spielten aber auch rein praktische Gründe eine wesentliche Rolle. Bei einer Volksabstimmung wäre die Frage aufkommen, wie zu interpretieren gewesen wäre, wenn es in beiden Landesteilen unterschiedliche Ergebnisse gegeben hätte.“
Der 20. Jahrestag der Auflösung der Tschechoslowakei wird schon seit Monaten in den Medien reflektiert. In Interviews oder Berichten kommen dabei frühere Politiker oder wichtige Zeitzeugen zu Wort. Und einiges tut sich auch im Bereich der Wissenschaft.Tomáš Zahradníček von der Akademie der Wissenschaften hat in diesem Zusammenhang eine interessante Entwicklung festgestellt: Seiner Meinung nach wird nämlich das Thema der Auflösung der Tschechoslowakei heute nicht mehr so emotional wie früher gesehen. Lange verbarg es ziemliches Konfliktpotential, weil damit auch tagesaktuelle politische Motive verbunden waren.
Zudem öffnen sich auch allmählich die Archive und erlauben den Zugang zu internen Sitzungsprotokellen. Wissenschaftler müssen sich also nicht mehr auf Material beschränken, das für die Öffentlichkeit bestimmt war. Sie können das Thema nun in seiner ganzen Komplexität erfassen. Das kann mitunter auch zu ziemlich überraschenden Situationen führen, wie Zahradníček illustriert:„Es ist relativ oft vorgekommen, dass wir einen wichtigen politischen Akteur von damals getroffen und ein Interview mit ihm geführt haben, und er eine völlig andere Meinung vertreten hat als seinerzeit. Besonders auffallend war diese Haltungsänderung bei Politikern, die vor 20 Jahren in Bezug auf die Zukunft der Tschechoslowakei radikale bis extreme Positionen eingenommen haben. Sie haben mittlerweile eine ziemlich große Distanz zu dem, was sie einst vertraten.“
In Tschechien neigt man naturgemäß dazu, die Auflösung der Tschechoslowakei vom eigenen Standpunkt aus zu beurteilen. Doch wie ist es in der Slowakei? Historiker Tomáš Zahradníček beschreibt die Unterschiede aus der Sicht des Historikers:„Die Perspektive ist natürlich eine ganz andere, weil in der Slowakei von Beginn an von einem selbständigen Staat die Rede war. Die Tschechen haben relativ lange gebraucht, bis sie sich mit dem Ende des gemeinsamen Staates abgefunden hatten. Erst in letzter Zeit lässt sich auch auf tschechischer Seite eine Haltung feststellen, die die Entwicklung ab dem 1. Januar 1993 im Großen und Ganzen positiv sieht. Das erlaubt auch jetzt erst den vollen Umfang dieser Veränderung zu begreifen und zu analysieren, was bis dahin unterschätzt wurde. Viele Tschechen haben lange geglaubt, dass sich nicht so viel verändert habe, dass vieles so geblieben sei, wie es schon vorher war, einschließlich der handelnden Politiker. Aber mit dem zeitlichen Abstand wird ersichtlich, wie groß die Veränderungen gewesen sind.“