Wieder Nachbarn – Erinnerungen an 30 Jahre Grenzöffnung
Die Feiern zu 30 Jahren Grenzöffnung sehen dieses Jahr – coronabedingt – anders aus als geplant. Statt im Museum erinnern Zeitzeugen aus Westböhmen und Bayern nun in einer Online-Ausstellung an den Fall des Eisernen Vorhangs.
Miroslav Kalaš:
„Stellt euch diese tolle Atmosphäre vor. Auf der einen Seite stehen die Deutschen, auf der anderen Seite die Tschechen. Und sie sind keine Feinde mehr.“
Rosa Schöner:
„Ich glaube, so viele Gäste hat Mähring noch nie gesehen, und wird es auch lange nicht mehr sehen. Man sprach von 30.000 bis 40.000 Besuchern, die zuerst von der Tschechei zu uns und dann von uns dorthin gewandert sind.“
Barbora Májová:
„Es war wunderbar. Mit meinem Mann und unseren zwei kleinen Töchtern fuhren wir nach Broumov, von dort gingen wir zu Fuß weiter nach Mähring. Dort gab es eine Feier, Musik spielte, es gab einen Imbiss. Und wir trafen dort unsere Verwandten aus München.“
Herbert Rath:
„An dem Tag haben wir zufällig den Maibaum aufgestellt. Da haben die Tschechen mitgeholfen. Das war wunderbar. Sie waren mit der Blasmusik vertreten, haben auf der Straße getanzt. Das kann man nicht mehr vergessen.“
Erinnerungen an die sogenannte Probegrenzöffnung vor 30 Jahren am kleinen Grenzübergang Mähring / Broumov. An zwei Tagen Ende April und Anfang Mai konnten Tschechen und Oberpfälzer erstmals ohne Visum ins Nachbarland – zunächst die Tschechen nach Mähring, dann die Deutschen nach Broumov. Für die Menschen beiderseits der Grenze war es ein Großereignis.
„Die Vorbereitungen waren natürlich dementsprechend. Es braucht Sitzgelegenheiten, es müssen Bier, Limonade und Würstchen bestellt werden, es müssen Abfallkörbe bestellt werden. Das Rote Kreuz muss kommen, es müssen Kinder betreut werden. Also, es war viel vorzubereiten, aber wir sind da mit einem Optimismus und einem Gottvertrauen herangegangen, und es hat wirklich alles geklappt.“
Rosa Schöner gehörte damals zum Organisationskomitee in Mähring. Auf tschechischer Seite wiederum engagierte sich Hana Moravcová aus Kyjov bei Broumov. Die Sportlerin lernte im Februar 1990 erstmals drei Deutsche kennen, die im Nachbarland mit dem Auto unterwegs waren.
„Wir haben ausgemacht, dass wir uns jeden Sonntag um 14 Uhr direkt an der Grenze treffen, um die Grenzöffnung zu planen. Damals lag noch im Februar und im März viel Schnee, wir mussten also durch den Schnee waten. Und jedes Mal war die Grenzwache mit Gewehren dabei. Die Soldaten hatten Angst, wir würden nach Deutschland fliehen. Meine erste Begegnung mit Rosa Schöner war dann direkt an der Grenze. Und so begannen diese schönen Vorbereitungen auf die Grenzöffnung.“
Die Erinnerungen von Hana Moravcová und Rosa Schöner an das Frühjahr 1990 sind derzeit in einer Online-Ausstellung zu hören und sehen, gemeinsam mit elf weiteren Zeitzeugeninterviews. Kuratorin war Barbara Habel von der Museumsfachstelle der IKom im Stiftland.
„Zum Jubiläum der Grenzöffnung wird in Mähring alle fünf Jahre am ersten Maiwochenende eine große Feier veranstaltet, abwechselnd in Broumov und in Mähring. So war es auch dieses Jahr zum Dreißigjährigen geplant, und wir hatten die Idee, eine Ausstellung zu machen. Dann sind wir schnell darauf gekommen, auch die anderen Grenzorte mit ins Boot zu holen. Die Eröffnung wäre in Mähring gewesen, aber mit Waldsassen, Mähring, Bärnau und Bad Neualbenreuth sind alle Grenzorte Teil der Ausstellung.“
„Die Zeitzeugen waren total begeistert von dem Projekt. Sie meinten, es sei schön, dass es mal wieder Interesse findet. Man merkt, dass sie das abflauende Interesse bedrückt, weil es für sie ein wichtiger Teil ihres Lebens ist.“
An der Suche nach den Zeitzeugen beteiligte sich neben den Leitern der Grenzmuseen im Landkreis Tirschenreuth auch das Stadtmuseum Mariánské Lázně / Marienbad.
„Die Zeitzeugen waren total begeistert von dem Projekt. Sie meinten, es sei schön, dass dies mal wieder Interesse findet. Man merkt, dass sie dieses Abflauen bedrückt, weil das für sie ja ein wichtiger Teil ihres Lebens ist, der sie stark geprägt hat. Viele Freundschaften sind daraus hervorgegangen. Und heute machen sich viele gar keine Gedanken, wie besonders das ist, dass man einfach rüberfahren kann, und dass man im Nachbarland auch mal mehr tun könnte, als Zigaretten holen und Tanken.“
Befragt wurden die Zeitzeugen von Schülerinnen und Schülern der Mädchenrealschule Waldsassen und der Grundschule (Základní škola) Úšovice bei Mariánské Lázně / Marienbad. Unter Anleitung des Jugendmedienzentrums Tannenlohe produzierten sie die Videos – das Ganze kurz vor der Corona-Epidemie.
„Wir sind wirklich froh, dass wird die Gespräche noch im Februar gemacht haben. Die Zeitzeugen waren perfekt durchgetimt. Sie kamen im Halbstundentakt und wurden von den Schülern gefilmt, die haben die Fragen gestellt und alles ganz toll umgesetzt. Am Ende des Tages waren auch alle total aufgekratzt, weil alle diese Geschichten im Kopf hatten und auch darüber sprechen wollten. Ich denke, das war eine tolle Erfahrung für alle.“
Visum, Passkontrolle, Zollstation – für die Schüler, die mit offenen Grenzen aufgewachsen sind, eröffneten sich neue Erkenntnisse über die Nachbarregion vor 1989. Während auf deutscher Seite der Weg bis zur Grenze frei war, gab es in der Tschechoslowakei eine kilometerbreite Sperrzone.
„Das heißt, ehe man an die Grenze kam, musste man durchs Niemandsland. Also durch Wald mit verschiedenen Signaleinrichtungen, um Flüchtige aufzuhalten. Dann kam erst der Eiserne Vorhang, die Drähte, und noch weiter erst die Grenze.“
So erinnert sich der Marienbader Ladislav Konečný an den ‚pohraniční pásmo‘.
„Und als ich nach Deutschland kam, sah ich einen Landwirt einen Meter entfernt von der Grenze sein Feld pflügen, er hatte dort seine Kühe. Das heißt, während er sich dort direkt an der Grenze um seine Kühe kümmern konnte, mussten wir diese kilometerbreite Sperrzone aushalten. Das war eine einschneidende Erfahrung für mich.“
Auch die Lehrerin Ingrid Leser, aufgewachsen in Bärnau, hat ihre persönlichen Erinnerungen an die Grenze.
„Wenn wir Pilze suchen gegangen sind, sagten die Eltern: Passt auf, die schießen. So hat man als Kind ein bisschen ein Feindbild von den Tschechen bekommen. Was mich dann später zum Nachdenken gebracht hat, war meine Zeit in England. Da fragte man mich, ob ich Tschechisch spräche – wieso sollte ich Tschechisch sprechen, dachte ich mir damals. Auf die Idee wäre ich nie gekommen. Doch das waren erste Anhaltspunkte, die mich zum Überlegen brachten. Da war ich schon über 20, da kam der Verstand, und man hat etwas mehr darüber nachgedacht.“
Als Lehrerin der Hauptschule Tirschenreuth leitete Ingrid Leser gemeinsam mit Kollegen gleich am 1. Mai 1990, am Tag der Mähringer Probegrenzöffnung, den Austausch mit tschechischen Schulen in die Wege. Für die Mähringer standen 1990 vor allem auch handfeste wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel, erinnert sich Rosa Schöner:
„Mähring grenzt zu zwei Dritteln an die Tschechische Republik. Es waren in Mähring so gut wie keine Arbeitsplätze, und die Grenzübergänge Waidhaus und Schirnding waren so überlastet, dass die Leute stundenlang warten mussten. Ein Grenzübergang bringt natürlich Arbeitsplätze, weil sich dort Speditionen ansiedeln, weil Beamte und Schreibkräfte gebraucht werden und so weiter. Und davon haben wir Mähringer natürlich geträumt, dass wir einen Grenzübergang mit Arbeitsplätzen bekommen.“
„Wir haben im Pfarrbrief geschrieben: ladet die Gäste ein, macht ihnen einen Kaffee, spielt mit den Kindern. “
Anders als zum Beispiel im benachbarten Waldsassen stand der Grenzübergang Mähring / Broumov auf der Kippe, weil nicht klar war, ob er rentabel sein würde für die kleinen Gemeinden. Bei der Probegrenzöffnung mussten die Mähringer also tatsächlich ihre Grenzübergangstauglichkeit unter Beweis stellen.
„Erst hat es geheißen, es gibt einen Tag der offenen Grenze. Aber wenn die Tschechen zu uns kommen, und wir zu ihnen, dann ist keiner daheim. Dann sind die Häuser leer. Dann hat sich erst ergeben, dass es zwei Tage der visumsfreien Grenze geben wird. Und wir haben im Pfarrbrief geschrieben, ladet die Gäste ein, macht ihnen einen Kaffee, spielt mit den Kindern. Sie sollen die Leute ansprechen, auch wenn es Schwierigkeiten mit der Sprache gibt. Aber ein freundliches Wort ist immer ein freundliches Wort, ganz gleich in welcher Sprache.“
4.500 Tschechen und Deutsche unterschrieben an dem Wochenende schließlich eine Petition zur Öffnung eines regulären Grenzübergangs Broumov / Mähring.
„Wir haben an den zwei Tagen über 30.000 Liter Bier und Limonade ausgegeben und 7000 Bratwurstsemmeln teils verkauft und teils verschenkt. Am Schluss ist noch ein stattlicher Betrag übriggeblieben.“
Mit dem Gewinn musste ein wissenschaftliches Gutachten bezahlt werden, mit dem die Mähringer die Politik überzeugen konnten. Am 1. Juli 1990 öffnete der Grenzübergang Mähring/Broumov. Mit Bärnau und Waldsassen gab es im Landkreis Tirschenreuth damit drei Grenzübergänge, 1995 kam noch ein grenzüberschreitender Wanderweg in Neualbenreuth hinzu. Dass ausgerechnet zum runden Jubiläum wieder alle Wege versperrt waren – eine seltsame Ironie der Geschichte, meint Kuratorin Barbara Habel:
„Zur Ausstellung sollten natürlich die ganzen Zeitzeugen eingeladen werden, die Schüler und Projektpartner. Leider ist das alles nicht zustande gekommen und Besserung war lange nicht in Sicht. Wir wollten keine Ausstellungseröffnung mit 30 Leuten, von denen die Hälfte nicht kommen darf wegen Corona. Für den deutsch-tschechischen Ansatz ist das natürlich ärgerlich.“
Auch wenn die Grenzen inzwischen wieder geöffnet haben, ist die Ausstellung fürs erste nur im Internet zugänglich. Die Eröffnung soll genauso wie die verschiedenen Feiern zur Grenzöffnung im kommenden Jahr nachgeholt werden.
Die Ausstellung „Wir sind wieder Nachbarn! - Erinnerungen an 30 Jahre Grenzöffnung“ ist online auf der Seite des Centrums Bavaria Bohemia Schönsee abzurufen: www.bbkult.net/projekte/kulturbruecke/30-jahre-grenzoeffnung