Wohnen und Schreiben am Urknall Europas: Gespräch und Lesung mit dem Schriftsteller Werner Fritsch

Werner Fritsch

Waldsassen liegt mitten in Europa, nämlich an der bayerisch-tschechischen Grenze. Trotzdem galt es bis 1989 als das Ende der westlichen Welt. Nach dem europäischen Urknall, nämlich dem Fall des Eisernen Vorhangs, lag es wieder im Zentrum des Kontinents, aber ihre Urigkeit hat sich die Region bewahrt. Von hier stammt auch der Autor Werner Fritsch, der in seinen Büchern die verschwindende Seele dieser Urregion im Herzen Europas festhält. Iris Riedel hat sich mit ihm in einem Prager Café zum Gespräch und einer kurzen Lesung getroffen.

Sie kommen aus einem kleinen Örtchen nahe der tschechischen Grenze, von Cheb nur zehn Kilometer entfernt,und sind dadurch auch sehr verbunden mit Tschechien. Auf dem Hof, auf dem Sie aufgewachsen sind, eine alte Sägemühle, wenn ich das richtig verstanden habe…

„Eine Sägemühle, Hendelmühle genannt, bei den Kirchdorf Wondreb und dort – das ist ein Einödhof, war ein alter Knecht, dessen Mutter aus Falkenau (Sokolov) kam und der Vater aus Waldsassen. Und der ist in diesem „Fraisch-Gebiet“ aufgewachsen, also zwischen Bayern und Böhmen. Er hat auch immer von der Urmutter erzählt, das waren seine böhmischen Vorfahren. Und diese ganzen Welterschaffungsmzthen und alten Geschichten hatte er von seinen böhmischen Urmüttern mitgebracht und uns Kinder immer mit seinen Erzählungen fasziniert. Das ist sicher der Grundstock für mein literarisches Schreiben gewesen.“

Das hat Sie ja dann immer weiter fasziniert…

es in Afrika bei den Dogon findet oder bei den Indianern im Regenwald in Südamerika. Und dann fand ich die Tatsache, dass sich in der Mitte von Mitteleuropa noch solche Formen des Denkens gehalten haben, so spannend, dass ich daraus meinen Roman ‚Cherubim’ gemacht habe.“

Was sind das für Strukturen des Denkens?

„Das sind magische Verknüpfungen, die natürlich nicht so unseren Logiken entsprechen. Also, wenn wir ‚weiß’ sagen, dann wissen wir, dass dann ‚schwarz’ kommen muss. Oder wenn wir ‚plus’ sagen, wissen wir, dass dann ‚minus’ kommen muss. Aber dort ist es einfach…man weiß nicht, was nach ‚weiß’ kommt. Das sind ganz offene, jeweils der neuen Situation angepasste Formen, des offenen Denkens, das sich unserer Logik entzieht. Und das hat sich eben am Ende der westlichen Welt, was es ja damals war, so gehalten. Also es haben sich dort Strukturen bewahrt, die lange im rest Deutschlands ausgestorben sind. Es gibt auch ein Buch zur deutschen – oder vor allem bayerischen Sprache, darin wird belegt, dass in meinem Buch ‚Cherubim’ Worte verschriftlicht sind, die tausend Jahre nicht mehr in Schrift aufgetaucht sind. Das sind Wort wie ‚falzen’ für ‚zusammenschlagen’, also jemanden zusammenfalten. Das sind ganz alte, mittelalterliche Wendungen, die sich dort noch bewahrt haben.“

Sie sind Tschechien nicht nur geographisch, sondern auch literarisch nah, wie Sie eben dargelegt haben. Und Sie hat das auch weiterhin beschäftigt, also zum Beispiel der Schwejk…

„Ich habe ein Stück geschrieben, das ‚Schwejk?’ heißt und wo ich auch noch einmal versucht habe das Schwejk-Prinzip mit diesem Parzival-Element, das bei Wenzel da ist, zu verbinden. Ich habe dann noch zwei andere Figuren: Eine von ihnen eine Roma, die sechs Jahre Auschwitz überlebt hat und mit der ich auch Gespräche geführt und ein Theaterstück und einen Film gemacht habe. Und mit diesen drei Figuren habe ich das Schwejk-Prinzip dargelegt. Eine davon ist diese Parzival-hafte Ebene von Wenzel, eine ist diese schalkhafte Ebene des Hechslers, das ist die dritte Figur, und dann eben diese Roma, die natürlich auch viele Courage-Elemente hat, die mit Schwejk korrespondieren.“

Das heißt Schwejk teilt sich in drei Personen auf. Und dann ging es weiter mit einem Lesebuch über Böhmen, ein Porträt…

„So 1993/94 sind wir viel in Böhmen herumgefahren, den Kofferraum voller Bücher, und haben die ganzen Orte aufgesucht, von denen wir bei irgendwelchen Dichtern gelesen hatten. An der Berounka haben wir am Ufer gelegen und haben uns gesagt: ‚Aha, die Akazie, die jetzt hier steht, ist genau die, die im Buch vorkommt.’ Dann die Fährfrau und diese ganzen Geschichten, das hat uns sehr berührt.“

Und daraus ist eben nicht nur das Lesebuch entstanden, sondern auch das „Nachwort“ zu einem tausendseitigen Hrabal-Romanband, der jetzt im Suhrkamp-Verlag erschienen ist. Da wollte ich Sie bitten, uns ein Stück daraus vorzulesen.

„Gerne. … ‚Mein Gott ist Dionysos. In Böhmen unterwegs zu Bohumil Hrabal. ‚Das Leben ist schön, zum verrückt werden schön. Nicht dass es so ist, aber ich sehe es so.’ Bohumil Hrabal. Erste Station. Die Kindheit, das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Während der heißesten Tage des Jahres, um Mariä Himmelfahrt anno 1993 brechen wir, durch einen Brief Siegfried Undelds ermutigt, von der Hendelmühle aus auf. Vom diesseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs, vom Ende der westlichen Welt also, um Bohumil Hrabal, den König der tschechischen Prosa, meinen nachbarb auf der Gegenlandkarte des Geistes im nahem Böhmen zu besuchen. Fahrten wie diese, den Kofferraum des roten Mercedes voller Bücher, sind inzwischen für uns Tradition. Meine Frau, Uta Ackermann, und ich hatten auf unserer Hochzeitreise beschlossen, für den Insel-Verlag ein Reiselesebuch Böhmen herauszugeben. So fuhren wir über Jahre quer durch Böhmen. Im Kofferraum Bücher von Autoren, die im jeweiligen Landstrich geboren wurden, die dort gelebt oder geschrieben oder auch nur die jeweilige Gegend beschrieben hatten. Wir lasen schauten. Verglichen Gelesenes und Angeschautes. Wanderten, schwammen, filmten fotografierten, notierten. Quartierten uns irgendwo ein, aßen Teplá jídla und tranken Budweiser oder Pilsner Urquell. Und so weiter und so weit fort.

Wer wird je, so dachten wir damals, wenn Bohumil Hrabal einmal tot ist, erzählen, wie vor dem Gewitterregen das Gras riecht in Böhmen, wie der Wind in die Bäume fährt und das Silbergrau aus den Kronen stiehlt. […] Und wer wird, wenn Bohumil Hrabal einmal tot ist, je erzählen, wie das Gelb des Getreides übersetzt wird in das Gold der Blitzbäume und wie das Schwarz des Himmel übersetzt wird in Raben im Gegenlicht. […] Zweite Station. Lachen in der Badewanne. In der ersten Nacht auf unserer Reise zu Bohumil Hrabal in der Stadt Nymburk am Ufer der Elbe, lese ich in der Badewanne, aus der ich immer wieder heißes Wasser aus uralten Messinghähnen nachfließen lassend nicht eher komme, bis ich ‚Ich habe den englischen König bedient’ zuende gelesen habe. Siegfried Unseld, der wusste, dass die literarische Landschaft von Bohumil Hrabals Böhmen in diesem Roman an die meine der nördlichen Oberpfalz grenzt, hatte mir dieses Buch geschickt. […] So habe ich selten beim Lesen lachen müssen. Außer bei Don Quichotte in der Übersetzung von Ludwig Tieck. Uta, die schon im Bett liegt, wird von meinem wilden Lachen immer wieder jäh aus dem Schlaf gerissen, fährt hoch und fragt mit traumumflorter sanfter Stimme: ‚Was ist? Was hast du gesagt?’“


Dieser Beitrag wurde am 13. Dezember 2009 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.

Autor: Iris Riedel
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