Vor zwei Wochen hat ein neues Schuljahr in Tschechien begonnen. Wie üblich hielt der Bildungsminister im Radio eine Ansprache an alle Kinder und Jugendlichen, aber auch an ihre Eltern und Lehrer. Diese Tradition stammt aus kommunistischer Zeit und hat sich erstaunlicherweise bis heute erhalten. Denn begründet wurde sie von einem der wichtigsten kommunistischen Ideologen in der Tschechoslowakei: Zdeněk Nejedlý. Im Folgenden mehr über ihn.
Zdeněk Nejedlý
Zdeněk Nejedlý war eine sehr kontroverse Persönlichkeit – nicht nur wegen seines politischen Engagements im kommunistischen Regime, aber auch angesichts seiner künstlerischen und literarischen Tätigkeit. Als promovierter Historiker und Musikwissenschaftler schrieb er an einer Unmenge an Büchern, wobei er sich thematisch keine Fesseln anlegte. Tatsächlich auch beenden konnte er jedoch nur seine ersten Schriften über das Hussitentum, von den später angefangenen Werken bestehen nur Fragmente. Das gilt vor allem für die beabsichtigten Monographien über den Komponisten Bedřich Smetana, den ersten tschechoslowakischen Staatspräsidenten, Tomáš Garrigue Masaryk, und den Führer der russischen Bolschewiken, Wladimir Iljitsch Lenin. In gleicher Weise erging es ihm mit seinem Buch über die Geschichte seiner Heimatstadt Litomyšl / Leitomischl. Der Historiker František Kutnar schrieb bereits 1973, Nejedlý habe in seinen Werken einen solch breiten Anlauf genommen, dass er letztlich nicht in der Lage gewesen sei, das Material verständlich zusammenzufassen und daraus eine runde Sache zu gestalten. Dazu der Publizist und Drehbuchautor Pavel Hlavatý.
Pavel Hlavatý (Foto: Vendula Kosíková, Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Man muss vor allem die Weltanschauung von Nejedlý begreifen. Diese gründete in der nationalen Bewegung, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nach einem ‚Sinn der tschechischen Geschichte‘ suchte. Während andere Schriftsteller und Historiker wie Palacký oder Pekař aber relativ kompetent in diesem Sinne verfuhren, neigte Nejedlý zu Oberflächlichkeiten, zweckgerichteten Interpretationen von Fakten und einer Verachtung kritischer Meinungen. Deswegen war es auch keine Überraschung, dass er auf Fremdsprachenkenntnisse keinen Wert legte. Stattdessen nahm er immer neue Themen in Angriff, ohne in die vorherigen bereits vorgedrungen zu sein. Vielleicht hing dies auch mit seiner Herkunft aus einer Kleinstadt zusammen, denn er identifizierte sich mit seiner Heimatstadt.“
Parteibuch der KPTsch
Ähnlich kurios war Nejedlýs Weg in die Kommunistische Partei. Erst 1939 im Alter von 61 Jahren trat er der KPTsch bei, zuvor war er zusammen mit weiteren Kommunisten vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten nach Moskau geflohen. Mitte März des Jahres hatte Deutschland seine Heimat besetzt und das Protektorat Böhmen und Mähren ausgerufen. Nejedlý wurde jedoch mit rückwirkender Gültigkeit ab 1929 in die Partei aufgenommen. Warum dies geschah, darüber lässt sich heute nur noch spekulieren. Die Historiker behaupten übereinstimmend, dass dies ziemlich ungewöhnlich gewesen sei. Jedenfalls stand Nejedlý nach dem Zweiten Weltkrieg vor einer großen Karriere. Ab 1945 bis zu seinem Tod im Jahr 1962 war er Regierungsmitglied, davon sieben Jahre lang als Minister für Bildungswesen und nationale Aufklärung.
Zdeněk Nejedlý (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Dem späten Politiker ging es vor allem darum, der Jugend die tschechoslowakische Geschichte aus „proletarischer Sicht“ zu vermitteln, wie er das selbst nannte. Was man sich darunter vorzustellen hat, das zeigt unter anderem Nejedlýs Rede im Tschechoslowakischen Rundfunk zu Beginn des Schuljahrs 1948. Was heutzutage wie chaotisches Plappern klingt, entsprach der damaligen Propagandalinie.
„Lasst uns bekennen, dass wir die nationale Seite unserer Geschichte unterschätzt haben. Wir haben ihre Interpretation der Bourgeoisie überlassen, damit sie im Namen der Nation ihr Vermögen anhäufen konnte. Als aber das Volk begann, anders zu denken, wendete sich die Bourgeoisie von ihm ab. Wir haben aber im Gedächtnis behalten, wie ihre Intelligenz über unsere nationalen Denker sprach: Sie sollen naive Menschen gewesen sein, die sich um einige abstrakte Sachen bemühten. Man darf aber nicht vergessen, dass dies unsere Kultur beeinflusst hat.“
Bedřich Smetana (Foto: Kristýna Maková)
Nejedlýs Vorstellung, was die Schüler im Geschichtsunterricht lernen sollten und was nicht, war eigenartig. Von den tschechischen Komponisten hob er vor allem Bedřich Smetana hervor, wahrscheinlich auch deswegen, weil dieser ebenso wie er aus Litomyšl stammte. Für akzeptabel hielt er zudem Zdeněk Fibich, mit dem Nejedlý sogar befreundet war. In Antonín Dvořák dagegen, Leoš Janáček oder Bohuslav Martinů sah er dekadente Künstler, die in der Volkskultur des neuen Staates keinen Platz hatten. Der Minister entwickelte auch eine eigene Auffassung der tschechischen Philosophie. Sein Vortrag zu diesem Thema aus dem Jahre 1950 ist nur in gedruckter Form erhalten geblieben. Dort steht zum Beispiel, Zitat:
„Die Philosophie muss sich den wahren Problemen der Gegenwart zuwenden und bei ihrer Lösung behilflich sein. Ihre Impulse sind vor allem in folgenden Bereichen zu finden: in der Volkslehre der hussitischen Denker, in Volksfiguren wie dem böhmischen Hans, der Marionettenfigur Kašpárek, der Großmutter aus dem gleichnamigen Roman von Božena Němcová oder auch in den Bildern von Mikoláš Aleš. Die Kommunisten können sich zu Recht als Erben der Hussiten und aller echten Volkskünstler ansehen. Deswegen muss unsere Philosophie den einzig richtigen Weg gehen, das heißt den Weg des Marxismus-Leninismus. Die Verneigung vor der westlichen Quasikultur muss ein Ende nehmen. Wir brauchen eine nationale tschechische Philosophie, die auf marxistischem Grunde fußt. Das wird unser Beitrag zur Weltphilosophie sein, die natürlich durch die sowjetische Philosophie geprägt ist.“
In diesem Sinne wollte Zdeněk Nejedlý nicht nur die Jugend, sondern auch die ganze Gesellschaft umerziehen. Daher plante er einen Umbau des Schulsystems. Ein Dorn im Auge waren ihm besonders die klassischen Gymnasien, die in der Zwischenkriegsära als Säule der humanistischen Bildung galten. Ihre Lehrer bezeichnete er als Reaktionäre, die in Zeiten der Glühbirne weiter mit der Fackel leuchteten. Die Gymnasien wurden ab September 1949 schrittweise durch Mittelschulen mit völlig neuen Lehrplänen ersetzt. Erst in den 1960er Jahren durfte die Bezeichnung Gymnasium wiederverwendet werden. Aber auch das Hochschulsystem ließ Nejedlý nicht verschont, wie aus seiner Rede beim 9. Parteitag der KPTsch 1949 hervorgeht:
Erwachsenenbildung (Foto: Archiv von Oldřich Mižďoch)
„Wir haben die Universitäten radikal gesäubert, sowohl unter den Professoren, als auch unter den Studenten. Das schlimmste Unkraut ist bereits gerupft. Nun weht dort ein neuer Wind, auch an den Fakultäten, die noch vor kurzem als Nester der Reaktion galten. Die neue Erziehung läuft auch im Rahmen der Erwachsenenbildung. Wir haben mit Kursen für begabte und politisch bewusste Arbeiter begonnen, so dass diese bald ihr Abitur ablegen und die entlassenen Reaktionäre in den Betrieben ersetzen können. Mit Freude stelle ich fest, dass sich diese Kurse bewähren und ihr Ziel erfüllen.“
Bis 1953, als er das Bildungsministerium verließ, galt Zdeněk Nejedlý als Meister der Propaganda. Viele Jahre lang sprach er sogar jeden Sonntag im Tschechoslowakischen Rundfunk. „Am Rande des Tages“ hieß seine Sendung. Erstaunlicherweise waren seine Reden relativ beliebt, obwohl sie aus heutiger Sicht gespickt waren mit leeren und stellenweisen sogar unverständlichen Phrasen. Pavel Hlavatý hat dafür aber eine Erklärung.
Zdeněk Nejedlý (Foto: ČT24)
„Ich habe wirklich von den Eltern meiner Altersgenossen häufig gehört, dass sie diese Reden gefesselt haben, obwohl sie die Kommunisten nicht unbedingt mochten. Für sie hatten die Ansprachen etwas Märchenhaftes: Nejedlý sprach in Ich-Form, mit freundlicher und entspannter Stimme, und aus seinem Mund klang die ideologische Kampfkraft eher lustig. Ab und zu geriet er dabei ins Stolpern, schließlich war er damals bereits ein älterer Mann. Vielleicht haben auch viele beim Zuhören gelacht. Ironisch gesagt, lässt sich also auch etwas Positives an Nejedlý finden“, so der Publizist.
Grab von Zdeněk Nejedlý (Foto: Kristýna Maková)
Zdeněk Nejedlý starb 1962 im Alter von 84 Jahren, bis dahin war er politisch aktiv gewesen. Dennoch wurde er bereits zu Lebzeiten unterschiedlich bewertet. In der kommunistischen Partei hatte er sowohl begeisterte Bewunderer, als auch Kritiker, besonders was sein literarisches Werk betraf. Nach seinem Tod wurde daher immer weniger an ihn erinnert.