Zeichen setzen – Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in Tschechien

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Seit über 50 Jahren gibt es die Organisation Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, gegründet von Vertretern der Evangelischen Kirche Deutschlands. Die Idee: Freiwilligendienste in allen Ländern anzubieten, die im Zweiten Weltkrieg unter Deutschland gelitten haben. Seither sind junge Menschen als Botschafter der Versöhnung in 12 verschiedenen Ländern unterwegs, darunter Polen, Israel und Russland. Auch in Tschechien arbeiten mehrere Freiwillige. Zum Beispiel Clara Hoeltermann.

Am Küchentisch der kleinen, schmalen Küche sitzt Clara. Sie trinkt trotz der Hitze Kaffee und isst die Schokowaffeln, die Herr Müller extra für sie gekauft hat. Richard Müller steht vor seinem Herd und raucht eine Zigarette. Damit sein Besuch nicht im Qualm sitzen muss, hat er die Dunstabzugshaube angestellt. Und weil es an diesem Tag eben so heiß ist, trägt er etwas zu kurze braune Shorts und ein weißes Netzunterhemd. Er ist 83 Jahre alt, kommt aus Kyjov in Südmähren und lebt schon seit 31 Jahren in seiner bescheidenen Wohnung in Prag. Deutsch hat er schon als kleiner Junge gelernt. Mit Clara kann Herr Müller seine Deutschkenntnisse auffrischen.

„Sie lernt Tschechisch, ich Deutsch. Wir trinken zusammen Kaffee.“

Clara ist 20 Jahre alt und macht ein Freiwilliges soziales Jahr bei der Organisation ASF, Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Seit fast einem Jahr ist sie nun in Prag. Altenarbeit in der jüdischen Gemeinde mit Überlebenden des Holocaust, das ist ihre Aufgabe. Richard Müller gehört zu denen, die den Holocaust überlebt haben. Seine Eltern und sein Bruder starben in Auschwitz, noch bevor er 18 Jahre alt war. Er war vor einem Jahr der erste, den Clara besuchte. Seitdem fährt sie jeden Freitag Nachmittag in die Plattenbausiedlung von Haje am Rande Prags, um Herrn Müller zu besuchen. Und sie kommt sehr gerne.

„Es ist sehr locker mit ihm und richtig nett geworden inzwischen. Wir haben dieses Enkelin-Opa-Verhältnis. Er versorgt mich immer mit frischem Obst, mal ein Kilo Äpfel, mal ein Kilo Orangen. Er hat mir schon viele Fotos gezeigt und er ist auch ein ganz lustiger Mann mit viel Humor.“

Diesen Freitag bekommt Clara tatsächlich Orangen. Außerdem zeigt ihr Herr Müller einen Brief von einer ehemaligen Freiwilligen. Seit fünf Jahren kommen die Freiwilligen zu ihm. Er hat mit allen noch Briefkontakt. Und wenn sie nach Prag kommen, melden sie sich bei ihm und sie treffen sich, erzählt er stolz:

„Jedes Mal wenn sie in Prag waren, haben sie mich angerufen, dass wir uns treffen. Dann treffen wir uns zum Mittagessen oder gehen ins Museum oder fahren auf der Moldau Boot.“

Auch für Clara geht ihr Freiwilligen- Jahr in Prag bald zu Ende. Noch bis Mitte August wird sie durch halb Prag fahren, den Menschen Mittagessen bringen, sie besuchen, mit ihnen spazieren gehen. Am wichtigsten aber ist, das Clara immer ein offenes Ohr hat. Sie hört den alten Menschen zu und lernt dabei:

„Diese lebendige Geschichte, also Geschichte nochmal ganz anders zu erleben – eben nicht aus Büchern, sondern von Menschen, die es selbst erzählen. Ich habe gestern auch noch mit einer Klientin darüber gesprochen, dass es etwas sehr Wertvolles ist und ich sehr froh darüber bin und es sehr schätze, dass mich die Klienten so nah an sich ranlassen, in ihre Wohnung und ihr Leben.“

Auch sonst hat sich der Auslandsaufenthalt in Tschechien für Clara gelohnt.

„Ich fands auch sehr schön, die tschechische Kultur, auch wenn sie sich nicht so sehr von der deutschen unterscheidet, ganz in Ruhe mit ihren kleinen Unterschieden kennen zu lernen. Eben nicht diesen Besuch, wo man schaut: Ach was gibt es hier denn Neues an Kultur, sondern ruhig, von Zufall zu Zufall immer wieder was Neues zu entdecken.“

Dabei hatte Clara ursprünglich gar nicht geplant, nach Tschechien zu kommen. Sie kommt aus dem Nordwesten Deutschlands. Sie wollte nach ihrem Abitur ins Ausland, am liebsten nach Frankreich, Belgien oder in die Niederlande. Dann wurde sie zum Auswahlseminar von ASF nach Berlin eingeladen, erzählt Clara.

„Dann hatte ich ein 30minütiges Auswahlgespräch in dem mich die Leute von ASF ein bisschen dazu gebracht haben, mich doch auch mal in Osteuropa umzuschauen, weil das ja eigentlich auch ganz spannend ist. Sie konnten mich davon überzeugen, Tschechien, beziehungsweise Prag auf meinem Auswahlzettel anzugeben.“

ASF finanziert den Auslandsaufenthalt der Freiwilligen unter der Bedingung, dass jeder Freiwillige zehn Spender findet, die bereit sind, sie finanziell zu unterstützen. Es gibt ein Vorbereitungsseminar und während des Aufenthalts Seminare. Die Freiwilligen werden vor Ort von den Landeskoordinatoren betreut. Das ist auch gut so, denn die Freiwilligen werden direkt mit den schmerzvollen Geschichten konfrontiert.

So kann Clara damit umgehen, wenn Herr Müller vor seinem Herd steht, raucht und beim Brummen der Dunstabzugshaube erzählt, dass sein Bruder nach Auschwitz abtransportiert wurde und zusammen mit 3800 anderen Juden sterben musste. Das Datum weiß er genau: Es war der 8 März 1944. Jeder Freiwillige trägt dazu bei, dem Ziel von ASF ein Stückchen näher zu kommen: Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg am Leben erhalten und Versöhnung anbieten. So sagte Lothar Kreyssig, Mitgründer von ASF Ende der fünfziger Jahre:„Sühne geschieht, wenn der Verletzte die ihm gezeigte Reue gelten lässt und Vergebung gewährt. Das kann man erbitten, aber nicht proklamieren“. Clara hat diese Erfahrung gemacht, mit den Menschen, die ihr ihre Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg erzählt haben. „Die alten Menschen, die ich getroffen habe und die mir davon erzählt haben, sind alle recht positiv und verzeihen irgendwie auch. Ich hatte nie das Gefühl, dass sie mir noch Hass oder Wut entgegen bringen. Sie haben mir das erzählt und ich habe es eher als Geschenk empfunden, dass sie es mir preisgeben, aber eben auf eine freundschaftliche Art und Weise.“ Bevor Clara zurückgeht nach Deutschland, werden sie und Herr Müller essen gehen – Clara darf sich ein Restaurant aussuchen. Auch sie hat vor, wie die anderen Freiwilligen, mit Herrn Müller in Kontakt zu bleiben und ihm zu schreiben. Im September wird dann eine neue Freiwillige kommen und Herrn Müller jeden Freitag besuchen.

Mehr Informationen über ASF und die Projekte finden Sie im Internet unter: www.asf-ev.de