Zeuge der Geschichte: Villa Tugendhat I
Sie steht auf der Unesco-Liste des Weltkulturerbes und gilt als Meisterwerk des Architekten Ludwig Mies van der Rohe: die Villa Tugendhat. Der namhafte Architekt baute sie 1928 für den Brünner Industriellen Fritz Tugendhat und seine Familie. In der letzten Zeit gelangte das einzigartige Bauwerk erneut in die Presse, weil über die geplante Renovierung ein Rechtsstreit geführt wird.
Im Brünner Stadtteil Černá pole / Schwarzfeld in der Černopolní Nr. 45 steht das Haus, das in den letzten Jahren so oft nicht nur in den Medien zitiert wurde. Eine vor dem hellen Gebäude angebrachte Tafel macht darauf aufmerksam, dass Sie vor einem Kulturerbe von Weltformat stehen. Verwaltet wird die Villa vom Brünner Stadtmuseum.
Dagmar Černoušková vom Dokumentationszentrum des Museums erzählt, Mies van der Rohe habe Brünn im September 1928 besucht und im Dezember desselben Jahres dem Ehepaar Tugendhat den fertigen Bauentwurf vorgelegt:„Frau Greta Tugendhat hat in ihren Erinnerungen sehr schön festgehalten, dass sie mit ihrem Mann 1928 zur Silvesterfeier zu ihren Freunden nach Berlin reiste. Mit Mies hatte sie vereinbart, dass sie ihn am Vormittag besuchen, um die Baupläne abzuholen. Sie blieben jedoch damals in seinem Atelier sitzen und diskutierten mit ihm bis über Mitternacht hinaus.“
Der Vater von Greta Tugendhat, Alfred Löw Beer, ließ im Frühjahr das Grundstück in Černá pole an die Tochter übertragen. Die Firma der Brüder Eisler begann im Sommer mit dem Bau der Villa. 14 Monate dauerten die Bauarbeiten, und vor Weihnachten 1930 konnte Familie Tugendhat in ihr neues Haus umziehen. Die Familie Tugendhat konnte die Villa jedoch nicht lange nutzen. Knapp acht Jahre lebte sie dort, im Mai 1938 mussten sie Brünn verlassen.„Sie war wahrscheinlich eine der ersten jüdischen Familien, die in die Emigration ging. Zuerst reiste sie in die Schweiz. Die Tugendhats waren ständig in Kontakt mit Menschen in Deutschland, die über die politische Situation dort sehr gut informiert waren und ahnten, wie sich alles weiter entwickeln würde. Es ist notwendig, in diesem Zusammenhang auch die Aktivität von Greta Tugendhat zu erwähnen: Nachdem Hitler 1933 in Deutschland an die Macht gekommen war, organisierte sie in Brünn eine Liga für Menschenrechte. Einmal im Jahr veranstalteten die Tugendhats in ihrer Villa ein großes Bridgeturnier, bei dem um Geld gespielt wurde. Der Erlös des Turniers kam dann der Liga zugute, die jene Flüchtlinge unterstützte, die 1933 vor Hitler aus Deutschland in die Tschechoslowakei geflüchtet waren. Die Tugendhats verließen die Tschechoslowakei im Mai 1938 und reisten nach St. Gallen.“
Während des Kriegs fühlte sich die Familie nicht einmal in der Schweiz sicher und beschloss im Januar 1941, nach Venezuela zu fliehen.
Der Architekt Mies van der Rohe besuchte die Villa im Jahre 1931 kurz nachdem sich die Tugendhats dort niedergelassen hatten. Es handelte sich, so Dagmar Černoušková, um seinen ersten und offensichtlich auch letzten Besuch in der Villa. Eigentlich wollte Mies noch ein weiteres Mal vorbeischauen. Daran habe sich Greta Tugendhat auch noch Jahre später erinnert, sagt die Historikerin:
„Als Mies irgendwann ankündigte, er werde nach Brünn kommen, begann man bei den Tugendhats sämtliche Porzellanfiguren und Spitzendecken von den Möbeln wegzuräumen. Denn in den Räumen sollte während der Anwesenheit des Architekten nichts liegen, was dort nicht hingehörte. Im Zimmer der Erzieherin stand ein Klavier, das dort natürlich auch nicht stehen sollte. Die Tugendhats hatten es damals im Keller versteckt. Der Architekt kam dann nicht, also war das ganze Umräumen umsonst. Auf den Fotos aus den dreißiger Jahren sieht man aber, dass einige dieser kleinen Sachen – wie Spitzendecken – doch auf den Möbeln lagen, auch wenn sie der Architekt dort nicht gern gesehen hat. Die Zimmer sehen auf den Fotos bequem und wirklich bewohnt aus.“Im Museumsarchiv gibt es viele Fotografien aus der Villa, darunter auch offizielle Fotos, die nach der Vollendung der Bauarbeiten gemacht wurden. Zahlreiche historische Fotos sind zudem im Besitz der Familie Tugendhat. Denn Fritz Tugendhat war ein passionierter Fotograf und experimentierte bereits damals mit Farbaufnahmen. Im Souterrain der Villa gibt es einen Dunkelraum, in dem er seine Aufnahmen selbst entwickelte. Deswegen ist das Haus bis heute gut dokumentiert.
Das ungewöhnliche Bauwerk hatte bereits in den dreißiger Jahren als Sensation gegolten. In Brünn selbst waren die Reaktionen ein wenig verlegen, obwohl die Villa in einer Stadt erbaut wurde, die gegenüber moderner Architektur aufgeschlossen war. Die damaligen tschechoslowakischen Architekten nannten sie eine „Kuriosität der Kunst“:„Sie fanden die Villa allzu bombastisch und sprachen über ein neuzeitiges Schloss. Zu der Zeit befassten sich die Architekten oft eher mit den Sozialaspekten des Wohnens. Sie überlegten, wie viele Einfamilienhäuser oder Wohnungen dafür hätten gebaut werden können. Nicht einmal in der damaligen tschechoslowakischen Fachliteratur findet man Reaktionen auf die Villa. Eine einzige Ausnahme stellt das Blatt ´Měsíc´(Der Monat) dar. Demgegenüber schenkten die deutschen Fachzeitschriften dem Bauwerk große Aufmerksamkeit. In der Berliner Zeitschrift ´Die Form´ wurde von Kritiker Justus Bier sogar eine Diskussion darüber geführt, ob man in der Villa überhaupt wohnen kann. An dieser Debatte nahmen die Tugendhats selbst auch teil und versicherten den Lesern, dass das Haus für sie maßgeschneidert sei. Sie schrieben, dass sie sich hier frei fühlen und dass es ein gutes Haus zum Wohnen ist.“Über die weitere Geschichte der Villa Tugendhat werden wir Sie in der nächsten Ausgabe des Reiselands informieren. Mit einer Architektin werden wir sie danach durch das Haus führen. Eine Besichtigung der Villa kann man mit den Mitarbeitern des Museums vereinbaren – mehr erfahren Sie unter www.tugendhat-villa.cz.
Noch wahrscheinlich bis Mitte kommenden Jahres soll die Villa für die Öffentlichkeit geöffnet sein, danach soll den jetzigen Plänen nach die Renovierung beginnen.