Zu Unrecht vergessen: Lesung deutschsprachiger Autoren in Prag
Franz Kafka, Max Brod oder Lenka Reinerová – diese deutschsprachigen Prager Schriftsteller sind den meisten Deutschen und Tschechen ein Begriff. Doch sie sind längst nicht die einzigen Vertreter der deutschsprachigen Literatur in Prag. Im Rahmen des Symposiums „Praha-Prag: Eine geteilte Geschichte 1930-1948“ veranstaltete das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren vergangenen Sonntag eine Lesung aus Texten von deutsch-tschechischen Autoren. Hier standen nicht nur die bekannten, sondern vor allem die vergessenen Schriftsteller, Dichter und Journalisten im Vordergrund.
Diese Worte von Lenka Reinerová aus ihrem Erzählband „Das Traumcafé einer Pragerin“ standen am Beginn der Lesung des Prager Literaturhauses. Die Worte der Gründerin des Prager Literaturhauses dienten auch als Motto des Abends. Denn die kürzlich verstorbene Granddame der deutschsprachigen Prager Literatur kannte die meisten ihrer großteils lange verstorbenen Kollegen der 1930er und 1940er Jahre persönlich. Doch aus den Buchläden und den Bibliotheken sind die meisten von ihnen heute verschwunden. Katja Schickel vom Prager Literaturhaus hat lange nach geeigneten Autoren gesucht.
„In Tschechien kennt man sie fast alle nicht mehr. Aber dummerweise kennt man sie auch in Deutschland nicht. In Tschechien wird das immer entschuldigt damit, dass es kein deutschsprachiges Publikum mehr gibt. Aber in Deutschland gäbe es das und trotzdem sind sie vergessen. Ein paar haben es immer mal wieder geschafft, eine Auflage zu bekommen. Deswegen habe ich auch nach Autoren gesucht, die wirklich stilistisch gut geschrieben haben, aber eben in Vergessenheit geraten sind.“
In Vergessenheit geriet zum Beispiel Hans Natonek. 1892 in Prag geboren, arbeitete Natonek als Journalist in der Weimarer Republik. Als Jude musste er Deutschland 1935 verlassen und floh nach Prag. Nach der Besetzung Böhmens und Mährens im März 1939 flüchtete er vor den Nazis über Frankreich und Portugal in die USA; wo er 1963 verstarb. In der Lesung war Natonek mit seinem Essay „Die Pass-Stunde“ vertreten.
„Ich träumte. Ich saß in der Schule der Emigration. Wir hatten gerade Pass-Stunde. Die Bank war hart, härter als Schulbänke sonst sind. Der Lehrer war streng und unfreundlich und die Prüfung dauerte lang und war schwer. Dann verlangte der Professor, ich solle eine kleine Redeübung über den Pass in freier Themenwahl extemporieren. Ich wählte das Thema ‚Ich blättere in meinem Pass’. Es ist nicht ein Pass, es sind viele Pässe, in denen ich blättere. In ihnen ist der Zerfall und Irrsinn der Zeit. Nacheinander besaß ich einen österreichischen Pass von Geburt, einen tschechoslowakischen, einen Reichsdeutschen durch Naturalisierung in der Weimarer Republik, einen staatenlosen durch Ausbürgerung und wieder einen tschechoslowakischen, heimgekehrt in meine Vaterstadt und aufgenommen vom Staate Masaryks.“
Mit feiner Ironie beschreibt Natonek eigentlich eine Verzweiflung, die viele der deutschsprachigen Prager Autoren kannten und worauf sie natürlich literarisch reagierten: Ausgrenzung, Ausweisung, Flucht und Exil. Trotz dieser gemeinsamen Erfahrungen habe es ein einheitliches „Prager Deutschtum“ jedoch nie gegeben, betont Schickel:
„Man kann auch nicht sagen, dass sich diese deutschsprachigen Schriftsteller als Einheit empfinden. Ganz viele empfinden sich auch nicht als Juden. Manche empfinden sich auch nicht als Deutsche. Sie werden an irgendeinem Punkt dazu gemacht. Das ist das Problem.“
Im Zeitalter von Nationalismus, Nationalsozialismus und Antisemitismus werden die deutschsprachigen Prager zu Deutschen gemacht. Als Juden sind sie in der Tschechoslowakei dann sogar eine Minderheit in der Minderheit. Dies erlebte auch der Prager Dichter Louis Fürnberg. Als Jude fühlte sich der Schriftsteller kommunistischer Gesinnung zwar nie. Dennoch musste er nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten 1939 aus Prag fliehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Fürnberg 1946 aus dem Exil nach Prag zurück. Seine Tochter Alena Fürnberg las vergangenen Sonntag sein Gedicht ‚Die Heimkehr’.
„War heut heimgekehrt eine Stunde lang. Abendsonne fiel auf Hof und Haus. Klopfte an die Tür. Niemand öffnet mir und die Toten stehen nimmer auf. Ziegel staubt im Gras, Mörtel fällt vom Sims, ging der Hausherr fort in tiefe Nacht. ‚Vater, bist Du hier?’ Keiner öffnet mir. Kehr doch heim von jahrelanger Fahrt. Geht das Fenster auf, eine fremde Frau schaut verwundet auf den fremden Mann in den Hof hinaus. ‚Bin der Sohn vom Haus, der lang fort ist und nicht fort sein kann.’ Doch die fremde Frau kann mich nicht verstehen und sie macht das Fenster wieder zu. Und die Sonne fällt langsam aus der Welt in die andere Welt, vor der mich friert.“
Die vergessenen, sehr persönlichen und düsteren Gedichte von Louis Fürnberg waren eine Überraschung für Katja Schickel vom Prager Literaturhaus.
„Ich hab irgendwann einmal Alena Fürnberg, die Tochter von Louis Fürnberg, gefunden. Sie hat uns eine Auswahl der Gedichte ihres Vaters geschickt. Das war für mich eine Entdeckung. Denn ich kannte seine Mozartnovelle, einige Gedichte und natürlich seine kommunistischen Werke wie das ‚Lied der Partei’: ‚Die Partei, die Partei, die hat immer recht’. Aber diese zarten Sachen von ihm kannte ich gar nicht.“
Louis Fürnberg wird häufig auf sein kommunistisches Werk reduziert. Dabei schrieb Fürnberg den Text und die Musik für die SED-Lobeshymne ‚Das Lied der Partei’ im Jahr 1950 eigentlich aus Wut und Enttäuschung. Die kommunistische Partei der Tschechoslowakei hatte ihn nicht zu ihrem Parteitag geladen. Eine Heimkehr auf Dauer blieb dem tschechisch-deutschen Literat aufgrund der stalinistischen Säuberungen und Schauprozesse verwehrt. Fürnberg zog in die DDR, wo er 1957 verstarb.
Die Kommunisten zwangen auch den Literaturhistoriker Peter Demetz ins Exil. Allerdings floh dieser schon 1948 aus Prag direkt nach der Machtübernahme der Kommunisten. Den Zweiten Weltkrieg hatte er in einem Zwangsarbeiterlager überlebt. Nach 40 Jahren Abwesenheit besuchte Demetz das Land seiner Kindheit und Jugend 1989 das erste Mal wieder. In dem Essayband ‚Böhmische Sonne, Mährischer Mond – Essays und Erinnerungen’ aus dem Jahr 1996 reflektiert Demetz das typisch böhmische Durcheinander der nationalen Identitäten der Zwischenkriegszeit.
„Es kam darauf an, ob man Tscheche, Deutscher oder Jude war. Oder gar einer wie ich, der überall und nirgends hingehörte und sich von den Ereignissen bedrängt fand, Partei zu ergreifen. Partei ist nicht das richtige Wort, denn es ging um Sprachen, Traditionen, Lebensformen. Und doch wieder ganz richtig. Denn im Jahre 1938 war es entscheidend, wer für die Demokratie war und für die tschechoslowakische Republik Partei ergriff und wer nicht. Ich höre immer nur Gespräche über Deutsche und Tschechen, als ob die Nationen Granitblöcke wären, die auf- und gegeneinander stürzen und ich vermisse die historische Erinnerung an die Nuancen, Schattierungen, die geplagten Menschen in den Zwischenräumen der Politik und Geschichte.“
Ein literarisches Mosaik, das das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren da zeichnete. Ein Mosaik, das verdient nicht wieder in Vergessenheit zu geraten, sondern lohnt in Tschechien und Deutschland in seiner ganzen Vielfalt und Farbenfracht betrachtet zu werden.