10. Turnfest des Sokol-Vereins vor dem Hintergrund der Ereignisse von 1938
Vor 72 Jahren fand in Prag das 10. Fest des tschechoslowakischen Turnvereins Sokol statt. In der Geschichte dieser Massensportorganisation gehört es gemeinsam mit dem Turnfest von 1948 zu den meistbekannten. Beide Veranstaltungen spielten sich nämlich in einer politisch angespannten Lage ab. Der Schwerpunkt unseres heutigen Geschichtskapitels liegt im Geschehen um das ältere von den beiden Sokolfesten, das Ende Juni 1938 begann.
Blicken wir zunächst noch vor das Jahr 1938 zurück, in die Geschichte des Turnvereins Sokol, auf Deutsch Falke, der bereits 1862 gegründet wurde. Als Vorbild diente die deutsche Turnbewegung. Die Mission des tschechischen Pendants haben die Sokol-Gründer Miroslav Tyrš und Jindřich Fügner etwa so definiert:
„Die Tschechische Sokol-Gemeinde, so der offizielle Name, ist ein freiwilliger demokratischer Verein. Sein Ziel ist die Erhöhung der physischen, geistigen und kulturellen Fähigkeiten der Gesellschaft sowie die Erziehung zum ehrenhaften Verhalten, zur Demokratie und persönlichen Bescheidenheit, zur Heimatliebe und dem Respekt vor dem geistigen Erbe der Nation.“
Anlässlich des 20. Gründungsjubiläums des Sokol-Vereins, der mittlerweile landesweit in einem breiten Netz von Turnorganisationen Wurzeln schlug, wurde am 18. Juni 1882 das erste Turnfest veranstaltet. Unter der Teilnahme von 720 Turnern und etwa dreieinhalbtausend Zuschauern fand es auf der Prager Moldauinsel Střelecký ostrov / Schützeninsel statt. Das war ein großer Erfolg. Von da an wurden weitere Sokol-Turnfeste in unregelmäßigen Zeitabständen an verschiedenen Orten Prags ausgetragen. Die Zahlen der Teilnehmer nahmen jedes Mal sprunghaft zu. Der Sokol und die Sokoln als seine Mitglieder waren von der tschechischen Nationalbewegung für lange Zeit nicht wegzudenken.
Das Sokol-Turnfest von 1938 wurde im großen Sportstadion auf dem Prager Strahov-Hügel ausgetragen. Es dauerte mehrere Wochen. Fast 350 000 Turnerinnen und Turner kamen damals nach Prag, um ihre eingeübten Turnprogramme mit Musikbegleitung vor insgesamt 2,3 Millionen Zuschauern vorführten. Es war ein großer gesellschaftlicher Event. Zugegen waren auch Staatspräsident Edvard Beneš und andere Prominente. In einer Live-Reportage am 26. Juni 1938 berichtete der Tschechoslowakische Rundfunk auch auf Deutsch:
„Soeben sehen wir den Aufmarsch der Jung-Sokoln. Zwei große Säulen sind links und rechts vom Platz aufmarschiert. Soeben erfolgte der Aufmarsch der zwei anderen gewaltigen Säulen in der Mitte des Stadions. Die Säulen beginnen sich zu zerteilen, um zu ihren Standplätzen zu kommen. Die Sokol-Jugend hat rote Höschen an und weiße Leibchen und trägt schwarze Turnschuhe.“
Die gespannte Atmosphäre vom Mai desselben Jahres, als die tschechoslowakische Regierung auf die erhöhte Konzentration deutscher Divisionen entlang der Grenze mit einer teilweisen Mobilmachung reagierte, hat sich im Juni einigermaßen beruhigt. Die zum verstärkten Grenzschutz getroffenen Massnahmen wurden etappenweise aufgehoben und auch die einberufenen Reservisten nach Hause geschickt.
Das aktuelle Geschehen vor dem Hintergrund der insgesamt komplizierten internationalen Situation hat sich aber trotzdem auf den Verlauf des 10. Sokol-Turnfestes ausgewirkt. Es dauerte fünf Wochen und während dieser Zeit nahmen es seine Teilnehmer zum Anlass, ihren Willen zur Verteidigung der Tschechoslowakei zu manifestieren. Zum Beispiel bei den traditionellen Umzügen in Prager Straßen oder beim Turnprogramm. 29 000 Männer, darunter viele Soldaten, turnten eine Übung mit dem Namen „Der Schwur der Republik.“
Wenn man über die Sokol-Bewegung in der Tschechoslowakei spricht, darf mindestens eine Frau nicht unerwähnt bleiben: Marie Provazníková. Von ihrer Kindheit an bis ins hohe Alter war sie eine begeisterte Sokol-Anhängerin und -Propagatorin. Bereits in ihren frühen Jugendjahren entpuppte sich die 1890 geborene Provazníková als eine Persönlichkeit, die die von den Sokol-Gründern vorgeschriebenen Freiübungen nicht nur turnen, sondern sie auch weiterentwickeln wollte. Bald hat man sie in die Organisationsstruktur des Sportvereins eingebunden. Seit 1931 gehörte der Sokol-Führungsspitze an. Es war allerdings eine Ehrenfunktion, hauptberuflich war sie als Turnlehrerin an einem Gymnasium tätig.
Ein bedeutender Moment der Sokol-Funktionärin ereignete sich 1936 vor den Olympischen Spielen in Berlin. Der damalige Vorsitzende der „Tschechoslowakischen Sokol-Gemeinde“, Miroslav Klinger, schlug vor, 800 Turner nach Berlin zu entsenden. Marie Provazníková war damit nicht einverstanden. In ihren Memoiren erinnerte sie sich:
„Ich habe mich gegen den Vorschlag gewehrt, weil ich nichts Positives im Beitrag des Sokol-Vereins zur pompösen Gestaltung der Olympischen Spiele in Berlin gesehen habe. Ich wusste, dass man all die Selbstpropaganda Deutschlands durch nichts überbieten konnte. Die Sokol-Turnbewegung auf diese Weise zu propagieren hielt ich schon aus dem Grunde für nicht möglich, weil das Publikum zum Großteil aus Sportlern gebildet sein sollte, denen es nur um Medaillen, Rekorde und Siege geht.“
So etwas widersprach der Sokol-Grundidee, die in der Massensportbewegung verankert war. In der Sokol-Führung waren aber die Meinungen geteilt. Wie Provazníková in ihrem Buch schreibt, hat man beschlossen, Staatspräsident Beneš zu befragen, der auch Sokol-Mitglied war. Laut Vereinsstatuten hatte er zwar die gleichen Rechte wie jedes andere.Baissmitglied, das Präsidentenamt verlieh seiner Stimme bei Diskussionen allerdings ein besonderes Gewicht. Bei einer Audienz, um die die obersten Sokol-Funktionäre Beneš ersuchten, sprach sich der Präsident für die Teilnahme an den Olympischen Sommerspielen in Berlin aus. Dazu Marie Provazníková in ihren Memoiren:
„Das Gespräch verwandelte sich in ein Duell zwischen dem Präsidenten und mir. Ich habe ihm meine Position erläutert, aber er verharrte der seinen. Für die Propagierung unserer Turner würde er auch durch die Hölle gehen, war seine Antwort.“
Nun, entschieden hat letztlich die Mitgliederbasis des Turnvereins. Auf ihren Druck fuhren die Sokol-Turner nicht nach Berlin. Das war nicht das erste und auch nicht das letze Mal, dass sich die über das ganze Land verstreuten Mittelpunkte des Vereinslebens, nämlich die Turnhallen namens „sokolovna“, als demokratisch respektierte Institutionen durchsetzten. Der Publizist Pavel Hlavatý über das Phänomen „sokolovna“:
„Die Sokolovna war – vor allem in kleineren Städten und auf dem Lande – ein Zentrum des gesellschaftlchen Lebens. Dort wurde nicht nur geturnt, sondern auch Theater gespielt und musiziert. Dort traf man sich auch bei Vorträgen von Menschen, die Wissen aus verschiedensten Bereichen im Lande verbreiteten.“
Die so breit angelegte Sokol-Bewegung, begründet auf einem dichten Netz von lokalen Sokol-Turngruppen, in denen sich das ganze Jahr hindurch ein reges Gemeinschaftsleben abspielte, besaß ein großes Mobilisierungspotential. Dieses ist eben auch beim 10. Sokol-Turnfest oder in den Auftritten von Sokol-Funktionären im Rundfunk und der Presse zur Geltung gekommen.
Im Mai 1938 sprach Marie Provazníková im Rundfunk die im Ausland lebenden Tschechen und Mitglieder der dort gegründeten Sokol-Gemeinden höchst emotional an. So war auch ihr Appell, den sie am 22. September 1938, kurz vor der Unterzeichnung des Münchner Abkommens, der die Abrennung der sudetendeutschen Gebiete von der Tschechoslowakei zur Folge hatte, über das Radio an die Sokol-Frauen richtete. Im Rundfunkarchiv ist die Aufnahme mit der Notiz „Aufruf zur Ruhe“ verbunden.
„Tschechoslowakische Frauen, Schwestern. Ich wende mich an euch, die ihr so sehr eure Heimat liebt und euch auf das Recht beruft, das zu opfern, was euch am teuersten ist – das Blut eures Blutes. Heute verlangt euer Vaterland mehr: die Emotionen durch Vernunft zu beherrschen, bis an die äußerste Grenze der Selbstüberwindung zu gehen und mutig alle Schicksalsschläge zu ertragen. In diesem Moment kann nichts Anderes unsere Republik und unsere Nation mehr gefährden, als innere Zerrissenheit und Unruhen, die dem Feind als Vorwand dienen könnten, unser Land zu überfallen. So ein Überfall würde nicht an jener Linie anhalten, über die heute verhandelt wird. Er würde ein schlimmeres Desaster mit sich brigen. (…) Wir sind die Hälfte der Nation. Man spricht von der Hälfte von schwächeren Nerven. Beweisen wir, dass wir unsere Nerven unter Kontrolle haben.“
Das Desaster ist aber doch gekommen. Der Sokol-Verein wurde 1941 zunächst von den Nationalsozialisten verboten, nach dem Krieg dann noch einmal von den Kommunisten. Marie Provazníková emigrierte 1948 in die USA. Aber auch dort blieb sie der Sokol-Bewegung treu. Sie starb 1990 im Alter von 100 Jahren. Nach der politischen Wende 1989 wurden noch drei Sokol-Turnfeste veranstaltet. Dennoch ist vom alten Glanz der Sokol-Idee heute nicht mehr viel übrig.