In 100 Jahren wird man den Kopf verwundert schütteln
Würde man in Tschechien so wie in Deutschland in einem sprachlichen Jahresrückblick "Wörter des Jahres" suchen, würde man in 2007 einen klaren Favoriten haben. Es müsste schlicht und einfach das Wort "Nationalbibliothek" sein. Gegebenenfalls dürfte es allerdings auch als Unwort empfunden werden, je nachdem etwa, ob es nach den Gegnern oder den Befürwortern des heftig umstrittenen Entwurfs für eine neue Nationalbibliothek in Prag geht.
Das futuristische Bauprojekt des tschecho-britischen Architekten Jan Kaplicky hat die Nation gespalten. Was den einen gefällt, nämlich die moderne, durchaus originelle Gestalt des geplanten Objektes sowie sein Standort auf dem Letna-Hügel, ist für die anderen geradezu extravagant und für das gewählte Umfeld absolut unpassend. Politiker, bildende Künstler, Architekten, Theater- und Filmemacher, Studenten, Schüler, das einfache Volk - all diese Gesellschaftskategorien äußern ihr Ja oder Nein in den Medien, auf Petitionslisten und bei Umfragen. Ein halbes Jahr nach der feierlichen Bekanntgabe des siegreichen Bibliothekprojektes, das aus einer internationalen Ausschreibung hervorging, wird auf einmal vieles massiv in Frage gestellt.
Ich muss gestehen, dass ich mir auch ein paar Tage den Kopf darüber zerbrach, warum eine aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fallende Bibliothek so eine derartig emotionsgeladene Diskussion auslösen kann. Beim Überlegen sind mir historische Paralellen auf den Sinn gekommen. Konkret die Entstehungsgeschichte des Prager Nationaltheaters.
Zwischen der Antragstellung im Jahr 1845 und der Erteilung der Baugenehmigung mussten zunächst sechs Jahre vergehen. Erst 1862 konnte ein neues, jedoch nur bescheidenes Gebäude des so genannten Interimstheaters entstehen. In den danach folgenden Jahren entflammte eine Diskussion, in der sich die Geister der politischen und kulturellen Repräsentation des Landes darüber schieden, ob das Interimstheater den zeitgemäßen Ansprüchen auf eine derartige Kulturinstitution entspreche oder nicht. Letztendlich gaben die Konservativen nach und das Sagen hatte die Generation junger Schriftsteller, Architekten und Maler, ja auch Politiker. Landesweit wurden Geldsammlungen organisiert. In 1881 fielen weite Teile des bereits fertig gebauten Hauses dem Feuer zum Opfer. Erneut wurde das Volk mittels freiwilliger Sammlungen zur Kasse gebeten. Die Zeit bis zur feierlichen Eröffnung im November 1882 wurde erneut mit heftigen Kompetenz- und Konzeptdiskussionen um das Nationaltheater ausgefüllt.
Nun, dieses Schicksal ist dem geplanten Gebäude der Prager Nationalbibliothek hoffentlich nicht beschieden. Welche Gestalt an welchem Standort sie letzten Endes annehmen wird, steht in diesem Augenblick offen. In 100 Jahren allerdings, nehme ich an, werden unsere Nachkommen beim Anblick der längst existierenden modernen Prager Nationalbibliothek den Kopf verwundert über ihre Vorgeschichte schütteln. So wie wir es heute über die des Nationaltheaters tun.