15 Jahre Waldorfpädagogik in Tschechien
Der 28. September ist in Tschechien Staatsfeiertag. Tschechische Schüler haben an diesem Donnerstag schulfrei und am Freitag gleich noch dazu - für viele Familien ein willkommenes verlängertes Wochenende, um der Stadt den Rücken zu kehren. Wir möchten diese schulfreie Zeit nutzen, um uns gemeinsam mit Ihnen einmal eine Schule von innen anzusehen, die in Tschechien noch keine lange Tradition hat: die Waldorfschule in Prag-Jinonice. Am vergangenen Wochenende beging sie ihren 15. Geburtstag. Silja Schultheis hat sich bei dieser Gelegenheit in der Schule umgehört, wie damals, unmittelbar nach der "Samtenen Revolution", die Waldorf-Idee in der Tschechoslowakei Fuß gefasst hat, wie diese Idee heute umgesetzt wird und auf welche Widerstände sie stößt.
Magdalena Geryserova, seit 15 Jahren Deutschlehrerin an der Waldorfschule in Prag-Jinonice, erinnert sich an die Anfänge der Schule:
"Es war die Idee von Eltern, die nach der Wende etwas anderes gesucht haben als die alten sozialistischen Schulen. Und die haben sich zusammengefunden, so eine kleine Gruppe, und die hat dann auch mit den Behörden verhandelt und hat die Initiative ergriffen. Und es ist ihr dann auch gelungen, dieses Schulgebäude zur Verfügung zu bekommen."
Was waren es für Eltern, die damals so entschieden die Initiative ergriffen? Magdalene Geryserova:
"Tja, das ist schwer zu sagen. Ich würde sagen, das waren Eltern, die einfach nachgedacht haben, was Pädagogik ist, was eine Schule bei dem Kind bewirkt. Die sich einfach Gedanken gemacht haben über Erziehung."
Einer dieser Gründer-Väter war Eugen Drgon, heute Vorsitzender des Elternvereins der Schule. Ihm und den anderen Eltern, so erinnert er sich, war damals von Anfang an klar, dass es nicht nur darum ging, irgendeine Alternative zur herkömmlichen Schulform zu finden:
"Wir haben sofort die Waldorfschule gesucht. Und wir haben gesehen, da müssen wir etwas für tun. Und so haben wir nach der Wende Vorträge organisiert und da sind Leute gekommen und haben gesagt: Ja, das möchten wir auch. Und so haben wir uns zusammengefunden und haben gesagt: Wir gehen das gemeinsam an. Und so haben wir zuerst einen Waldorfkindergarten gegründet und dann - mit den Kindern von dort - auch die Waldorfschule." Keiner von ihnen, erinnert sich Drgon, hatte am Anfang irgendwelche Erfahrungen mit Waldorf-Pädagogik:
"Das war alles neu. Und wir hatten kleine Kinder und haben Bücher über Erziehung gelesen, zum Beispiel von Michaela Glöckler. Und da kamen auch Waldorf-Schulen vor, und da haben wir uns weiter interessiert. Wir haben dann auch Freunde in Deutschland gefunden, die sind auch hierher gekommen. Und aus diesen Kontakten ist es dann so allmählich entstanden."
Die Kontakte zu deutschen Schulen bestehen bis heute. Mit der Waldorfschule im bayerischen Prien am Chiemsee gibt es etwa einen regelmäßigen Schüler- und Lehreraustausch. Warum eigentlich haben sich die tschechischen Eltern auf der Suche nach einer alternativen Schulform damals gerade für die Waldorfpädagogik entschieden? Magdalena Geryserova:
"Vielleicht ist es auch diese Freiheit, ein Ziel vor Augen zu haben, was man in Zukunft in dieser Gesellschaft bewirken will und bewirken kann."
"Was uns am meisten gefallen hat, ist die Kreativität. Dass die Kinder viel kreativer sind und sich mehr entfalten können - ihre Fähigkeiten und Talente."
Viertklässler spielen im Eurythmie-Saal ihrer Schule Theater. Zu Beginn erklärt die begleitende Lehrerin den Gästen den Hintergrund des Stücks:
"Im letzten Schuljahr haben wir zusammen die Erfahrung gemacht, was für ein Wunder es eigentlich ist, ein fertiges Brot auf dem Tisch zu haben. Die Schüler haben selber erlebt, dass man dafür ein ganzes Jahr lang hart arbeiten muss."
Auf einem kleinen Feld etwa 200 Meter hinter der Schule haben die Waldorfschüler der dritten Klasse im Frühjahr selbst Getreide gesät. Vor kurzem haben sie die Ernte eingefahren. Jetzt dreschen sie das Getreide aus, danach wollen sie es mahlen und Brot backen.
Getreidedreschen auf ukrainische Art. Am unkonventionellen Epochen-Unterricht der Waldorfschüler nehmen heute ausnahmsweise auch Schüler benachbarter Schulen teil. Sie würde sehr gerne auch hier zur Schule gehen, sagt eine Viertklässlerin aus einer naheliegenden staatlichen Schule. Getreidedreschen und ähnliche Dinge tun... Auf jeden Fall sei es an seiner Schule besser als hier. Jeden Tag Getreide ausdreschen, das würde er nicht überleben - widerspricht ein anderer Schüler. Ihm käme das hier sehr seltsam vor, pflichtet ein weiterer Viertklässler bei. Außerdem würde man hier ja wohl wenig lernen, vermutet sein Mitschüler. Jeder von ihnen macht heute zum ersten Mal Bekanntschaft mit einer Waldorfschule, keiner wusste vorher irgendetwas über diesen Schultyp.
Ähnlich verhalte es sich auch mit den meisten Erwachsenen, beobachtet Elternvertreter Eugen Drgon:
"Man muss sagen, es gibt viele Vorurteile in der Gesellschaft gegenüber den Waldorfschulen. Dass die Kinder indoktriniert werden und so weiter. Aber diejenigen, die hierher gekommen sind, zu unseren Weihnachts- oder Osterbasaren, die sehen die Schule und sagen: Ja, das ist prima. Und wenn sie mit den Kindern sprechen, sehen sie, das sind ganz 'normale' Kinder und nehmen das ganz positiv an. Vorurteile haben meistens Leute, die die Schule überhaupt nicht kennen."
Mehr noch als mit (anfänglichen) Vorurteilen haben tschechische Waldorfschulen aber gegenwärtig mit ihrer Stellung innerhalb des tschechischen Schulsystems zu kämpfen, sagt Schulleiterin Hana Strakova. Denn während der neue Rahmenplan des Bildungsministeriums den herkömmlichen staatlichen Schulen mehr Freiheit und Eigenverantwortlichkeit beschere, bedeute er für die Waldorfschulen paradoxerweise das Gegenteil:
"Während der 90er Jahre, wo sich hier auf einmal alles geöffnet hat und es so viele neue Möglichkeiten gab, waren natürlich auch die Bedingungen für neue Schulen gegeben, nicht nur mit Waldorf-Ausrichtung. Leider hat sich nach zehn Jahren gezeigt, dass der Staat seinen Schulen wieder Fesseln anlegen will und da bekamen wir plötzlich Probleme. Zwar wurde gesagt, dass unser Programm gut ist, dass wir allen Anforderungen gerecht werden. Aber das Schulministerium wollte uns seinen Rahmenplan aufdrücken und das ist natürlich nicht gelungen. Und deshalb wollte Schulministerin Buzkova vor drei Jahren sogar die Waldorfschulen schließen. Aber nach langen Diskussionen konnte der Konflikt gelöst werden."
Im Unterschied etwa zu Deutschland haben Waldorfschulen in Tschechien den Status von staatlichen Schulen und sind nicht auf private Fördermittel angewiesen. Schulgeld entfällt demnach, Waldorfschulen sind hier daher keine "Eliteschule" für Besserverdienende. Eugen Drgon:"Wir können nicht sagen, dass es typische Waldorf-Eltern gibt. Hier haben wir Eltern aus allen Gesellschaftsschichten. Man kann die Waldorfschule als Eliteschule ansehen, aber nur in dem Sinne, dass die Eltern sich hier um die Kinder kümmern. Sie sind mehr daran interessiert, in der Schule auch etwas zu bewirken. Sie schicken die Kinder nicht nur in die Schule und warten, bis sie zurückkommen."
220 Schüler besuchen gegenwärtig die Waldorfschule in Prag-Jinonice. Die Zahl der Anmeldungen ist jedes Jahr deutlich höher als die der zur Verfügung stehenden Plätze. Vorrang haben Kinder, die bereits einen Waldorfkindergarten besucht haben. So wie Honza. Ihm gefällt die freiere Unterrichtsweise hier, sagt er. Was ihn und einiger seiner Mitschüler stört, ist das Fußballverbot, das auch an vielen anderen Waldorfschulen gilt. Aber dagegen könne man wohl nichts machen.
Neben der Schule in Prag-Jinonice gibt es in Tschechien acht weitere Waldorfgrundschulen sowie 20 Waldorf-Kindergärten. Seit diesem Schuljahr gibt es in Prag erstmals eine weiterführende Waldorf-Mittelschule. Wer möchte, kann also künftig seine gesamte Schulausbildung, vom Kindergarten bis zum Abitur, nach Waldorf-Programm absolvieren. Nicht nur Prag, sondern auch der nordböhmische Ort Semily bietet seit kurzem diese Möglichkeit an. In Pribram und Ostrava besteht sie schon seit längerem. Dort, wo Waldorfschüler nach der neunjährigen Grundschule auf eine herkömmliche staatliche Schule gehen, um ihr Abitur zu machen, fällt der Übergang meist leicht. Waldorfschüler, das belegt die Statistik, schaffen überdurchschnittlich oft die Aufnahme an Mittelschule oder Gymnasium. Das weit verbreitete Vorurteil, an der Waldorfschule lerne man nichts 'Richtiges', halte der Realität daher nicht Stand, sagt Schulleiterin Hana Strakova. Für die Zukunft schwebt ihr ein großes neues Waldorf-Schulgebäude in Prag-Jinonice vor, das dann auch eine Art Keimzelle für weitere Waldorfschulen in ganz Tschechien werden könnte. Denn Bedarf daran gäbe es durchaus genügend, meint Magdalena Gerysova:
"Ich glaube, die Waldorfschule hat eine Perspektive, weil die Eltern sie suchen. Und als Alternative zu den staatlichen und anderen Schulen hat sie einfach ihren Platz hier."