30 Jahre Charta 77 - Dissidenten aus verschiedenen Ländern erinnern und diskutieren in Prag

Von rechts: Vaclav Havel und Max van der Stoel

Vor dreißig Jahren entstand in der Tschechoslowakei die Bewegung, die dem antikommunistischen Widerstand im gesamten Ostblock neue Impulse verleihen sollte: die Charta 77. Wie sich eben jene Impulse in den einzelnen Nationen auswirkten, damit beschäftigte sich vergangene Woche in Prag eine internationale Konferenz unter der Leitung des Historikers Vilem Precan. Und wo über die Charta 77 gesprochen wird, da darf Vaclav Havel nicht fehlen. Bei der Eröffnungsdiskussion im Nationalmuseum saßen an seiner Seite Dissidenten, Politiker und Wissenschaftler aus den ehemaligen Ostblockländern, darunter auch der DDR.

Vilem Precan
Vilem Precan hatte seinen Diskutanten Hausaufgaben aufgegeben, Fragen, mit denen sie die Diskussion vorbereiten sollten. Dabei ging es sowohl um die nationale Sicht jedes einzelnen ehemaligen Dissidenten als auch um ihren Blick auf die Dissidenten-Bewegungen der anderen Länder sowie eine Bewertung des Verhaltens der westlichen Demokratien. Vaclav Havel nutzte die Gelegenheit, zu Beginn mit zwei Vorwürfen aufzuräumen, denen sich die Charta 77 bis heute ausgesetzt sieht. Der eine: Die Charta 77 habe sich immer auf die Verfassung, die Gesetze und internationale Abkommen berufen und den Dialog gesucht, obwohl sie doch gewusst hätte, dass das System verbrecherisch gewesen sei. Havel verteidigt den Dialog:

"Ich möchte betonen, dass das Prinzip ´wir nehmen sie beim Wort´, nicht nur irgendeine Taktik war, die in der gegebenen Situation gewissermaßen einfacher war als ein bewaffneter Kampf. Es war etwas Tieferes. Es war die Rehabilitation des Wortes, so etwas wie die Rehabilitation des Geistes. Sie beim Wort zu nehmen, heißt nämlich plötzlich mit etwas zu operieren, das für die Machthaber schwer fassbar und schwer zu vernichten ist. Es heißt, den menschlichen Geist anzusprechen, ihn zu durchdringen. Ich habe den Eindruck, dass das Prinzip ´Wir nehmen sie beim Wort´ immer noch lebendig ist."

Der zweite Vorwurf gegenüber der Charta 77: Sie habe sich als das Gewissen der Nation aufgespielt:

Von rechts: Vaclav Havel und Max van der Stoel
"Wir haben das nie gemacht. Nie haben wir jemandem vorgeworfen, dass er die Charta nicht unterschrieben hat. Es gab sogar Fälle, in denen wir Leute, die unterschreiben wollten, überredet haben das nicht zu tun. Nie haben wir uns als etwas Besseres dargestellt als die übrigen Menschen. Im Gegenteil. Wir hatten ein tiefes Verständnis das Verhalten der Mehrheit. Das Verhalten der Mehrheit und ihre Manipulation der Gesellschaft waren eigentlich das Thema der Charta. Das war Gegenstand ihrer Betrachtungen. Eine interessante Beobachtung war: Je mehr wir das betont haben, desto mehr hat man uns vorgeworfen, uns als das Gewissen der Nation aufzuspielen, Toleranz zu heucheln."

Eine weitere Frage, die Havel gestellt wurde: Was war charakteristisch für die Charta 77, was unterschied sie von den Bewegungen in anderen Ländern:

"Ich würde sagen die Offenheit, das Unideologische. Da fand man rechte wie linke Politiker, junge Leute, die sich ideologisch oder politisch nicht zugeordnet hatten, sondern sich einfach nur frei verhalten und frei leben wollten. Das war meiner Ansicht nach eine sehr wichtige Sache, die in ihrer Zeit und auf ihre Weise umstürzlerisch war. Das Treffen beispielweise zwischen den Reformkommunisten und den Nicht-Kommunisten, das sich auf dem Boden der Charta abgespielt hat, auf dem Prinzip absoluter Ebenbürtigkeit. Der Umstand, dass jemand zuvor ein höherer Partei-Sekretär gewesen war, dieser Nomenklatur-Blick spielte überhaupt keine Rolle. Ein Musiker der Plastic People of the Universe war zum Beispiel ebenbürtig mit Zdenek Mlynar. Das war für die Charta charakteristisch."

Vaclav Havel
Hierin unterschied sich die tschechoslowakische Dissidenten-Szene stark von den Bewegungen in der DDR, wie der ehemalige DDR-Dissident Gerd Poppe hervorhebt. Die Zersplitterung sei erheblich größer gewesen:

"Das ging von Leuten, die lange Zeit auf einen demokratischen Sozialismus hofften und das zum Teil bis heute noch tun, die also immer noch die Reformfähigkeit des sowjetischen Systems im Kopf hatten, über Gruppen der Friedens- oder Umweltbewegung, die sich gar nicht unbedingt als politische Gruppen sehen wollten, die es manchmal regelrecht ablehnten Oppositionelle genannt zu werden."

Einen Hauptgrund für die unterschiedliche Entwicklung im Vergleich zur Tschechoslowakei sieht Poppe in der Existenz des anderen deutschen Staates, der demokratischen Bunderepublik:

Gerd Poppe
"Das bedeutete ja zum einen, dass immer wieder Menschen, die ein Potenzial bilden konnten für Bürgerrechtsbewegungen, in den Westen ausreisten. Entweder über den Umweg des Gefängnisses oder auf Antrag auf Ausreise. Wir haben mehrere Male komplette Freudeskreise verloren auf diese Weise. Es war also durchaus schwierig etwas aufzubauen, sich insbesondere zu organisieren. Denn in dem Moment, in dem das geschah, da war ein Teil dieser Menschen schon wieder aufgrund von Ausreise oder Ausbürgerung oder Abschiebung im anderen deutschen Staat gelandet."

Man habe sich, so Poppe, verzweifelt gefragt, was denn in der DDR überhaupt noch möglich sei. In dieser Situation sei die Charta 77 eine große Ermutigung gewesen. Man habe wieder Hoffnung geschöpft, wie Gerd Poppe berichtete und gleichzeitig viel gelernt vom Widerstand in den mittelosteuropäischen Ländern. Der Westen verhielt sich in Sachen Bürgerrechtsbewegungen oft leise. Wie sah man in Dissidenten-Augen das Verhalten der westlichen Demokratien? Hier konstatierten sowohl Poppe als auch Havel einen Mangel an Unterstützung:

"Die Unterstützung der Charta durch die demokratische westliche Welt, war keine Selbstverständlichkeit. Dabei hatte gerade das damalige Treffen zwischen Ihnen, Max van der Stoel, und Jan Patocka eine große Bedeutung. Sie waren der Politiker, der sich offen und ohne Barrieren mit einem Vertreter der Dissidenten, der Opposition getroffen hat. Das war überhaupt nicht selbstverständlich. Viele der westlichen Politiker unterlagen der Idee, dass wir so ein bisschen die friedliche Koexistenz der beiden Blöcke stören und dass durch zu viele Kontakte mit der Opposition eben diese friedlichen Beziehungen beider Welten gefährdet seien. "

Max van der Stoel  (links) und Vaclav Havel
Schärfer als Havel beklagte Gerd Poppe die mangelnde Unterstützung seitens des demokratischen Westens, insbesondere der Bundesrepublik Deutschland:

"Hier muss ich schon sagen, dass es viele Enttäuschung gegeben hat über die Politik früherer Bundesregierungen. Insbesondere, wenn sie sich verpflichtet sahen einen Status Quo aufrecht zu erhalten oder sogar zu stärken, wenn sie also die Annäherung an das SED-Regime stärker betrieben als den Versuch zu unternehmen die Oppositionellen in der DDR kennen zu lernen. Das ist leider eine Erscheinung gewesen, die uns sehr große Schwierigkeiten bereitet hat."

Havel stellte zum Abschluss die Verantwortung des tschechischen Staates gegenüber Unterdrückten in anderen Staaten heraus, welche aus den eigenen Erfahrungen erwachse:

"Unsere Erfahrungen fordern uns direkt auf und provozieren uns zu einer größeren Sensibilität gegenüber denen, die in autoritären oder totalitären Regimen leben. Und von diesen Regimen gibt es auf den Erdball noch recht viele. Mir scheint, dass wir jetzt eine vielfältige Palette von Möglichkeiten haben, wie man ihnen helfen kann, wie man jene unterstützen kann, die sich in einer ähnlichen Situation sehen wie wir vor 30 Jahren. Jetzt darf es allerdings nicht nur eine Sache der Bürgergesellschaft oder verschiedener Nichtregierungsorganisationen sein, sondern auch des Staates. Und ich habe den Eindruck, dass die Tschechische Republik in ihrer Außenpolitik zum Ausdruck bringt, dass sie darum weiß."

Fotos: Autor