Aktivistin Marie Gailová: „Viele Tschechen begegnen den Roma mit Unverständnis und Rassismus“
In Prag findet derzeit das Roma-Festival Khamoro statt – die weltweit größte Veranstaltung ihrer Art. Roma sind hierzulande aber nach wie vor oft Opfer von Anfeindungen und Stigmatisierung. Um das zu ändern, hat die Aktivistin Marie Gailová vor über 20 Jahren die Organisation Romodrom gegründet.
Marie Gailová stammt aus dem Prager Stadtteil Nusle. Traditionell ist das ein Viertel, in dem viele Roma leben. In den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks sagte sie dazu:
„Ich komme aus einer gemischten Familie. Mein Vater war ein Rom aus Stropkov in der Slowakei. Meine Mutter ist Tschechin.“
Ihre Kindheit, die noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs lag, sei schön gewesen, so Gailová. Die Familienangehörigen hätten ganz in der Nähe gelebt und so habe sie oft mit Gleichaltrigen spielen können. Doch dann kam sie in die Schule. Und dort fühlte sich Marie Gailová mit einem Mal anders als ihre Mitschüler.
„Das begann in der ersten Klasse. Niemand wollte sich neben mich setzen. Die Lehrerin ordnete an, dass Roma-Kinder in der letzten Reihe zu sitzen haben – und zwar alleine in einer Bank. Meine Cousins und Cousinen sprachen praktisch nur Romani und hatten deshalb Probleme. Da sie kein Tschechisch konnten, steckte man sie in eine Sonderschule.“
Gailovás großes Glück war eine ihrer Lehrerinnen in der ersten Klasse.
„Ich weiß nicht genau, warum, aber sie mochte mich wohl. Sie nahm mich mit zu sich nach Hause, wo ich Klavier spielen lernte. Und sie gab mir Nachhilfe in meinen Problemfächern, also Tschechisch und Mathematik.“
Diesen zusätzlichen Unterricht hatte Marie Gailová damals nötig. Ihr Vater war Analphabet, ihre Mutter kümmerte sich um die fünf Kinder und hatte daneben kaum Zeit, noch Wissen zu vermitteln. Sie habe es ihrer Lehrerin zu verdanken, so Gailová, dass sie auf der Schule bleiben und schließlich einen Abschluss machen konnte.
Von der Botschaftsangestellten zur Sozialarbeiterin
Marie Gailová besuchte schließlich eine Hotelfachschule. Im Anschluss begann sie, an der US-amerikanischen Botschaft zu arbeiten.
„Ich war bei den Amerikanern angestellt und habe mich um die ‚Marines‘ und ihre Frauen gekümmert. Und ich war für Empfänge und Gartenpartys verantwortlich. Das war eine schöne Arbeit, bei der ich viele spannende Menschen kennengelernt habe.“
Doch es kam der Punkt, an dem sich Marie Gailová nach einer Arbeit mit mehr Sinn sehnte.
„Ich habe ja mitbekommen, was in Tschechien passiert. Zu dieser Zeit kam es vor, dass Roma-Kinder von Skinheads überfallen wurden. Da habe ich mir gesagt, dass ich nicht mehr für irgendjemanden arbeiten will, sondern mich in den Dienst für unsere Leute stellen werde.“
Mit „unseren Leuten“ meint Marie Gailová die Roma. Auch der Tod ihres Vaters habe sie dazu gebracht, sich für die Gleichstellung der Minderheit einzusetzen, erzählt sie.
„Ich verließ die schillernde Welt der Botschaften und fing an, als Sozialarbeiterin im Terrain zu arbeiten – auf einer 50-Prozent-Stelle. Zuvor habe ich meine Kinder gefragt, ob sie mich für einige Zeit über Wasser halten können. Ich sagte ihnen, dass ich kaum etwas verdienen werde, weil ich nun für unsere Leute arbeiten will.“
Marie Gailová wusste damals nicht viel über Sozialarbeit. Aber sie absolvierte Kurse und fand Spaß in ihrer Anstellung bei der Stadt. Und sie war auch erfolgreich in dem, was sie tat: Bereits im ersten Jahr ihrer Tätigkeit, das war um die Jahrtausendwende herum, trug sie dazu bei, eine ghettoartige Roma-Siedlung im Prager Stadtteil Uhříněves aufzulösen. All diejenigen, die die tschechische Staatsbürgerschaft hatten, bekamen eine Wohnung von der Stadt. Noch heute sei Gailová mit einigen Betroffenen von damals in Kontakt. Die meisten hätten nun nicht nur eine Wohnung, sondern auch eine Anstellung, erzählt sie.
Eigentlich hatte Marie Gailová zu dieser Zeit ja nur eine halbe Stelle, tatsächlich habe sie jedoch 12 bis 16 Stunden täglich gearbeitet, so die Roma-Aktivistin.
Romodrom hilft – von Rechtsberatung bis Kinderbetreuung
2001 hob Gailová ihre Hilfe für die Roma noch einmal auf eine neue Ebene. Sie gründete die NGO Romodrom. Diese bietet heute Rechtsberatung an, sie hilft bei der Suche nach einer Anstellung oder einer Wohnung und hält Bildungsangebote für Kinder bereit.
„Alle Dienstleistungen sind selbstverständlich kostenlos. Denn die Menschen, um die wir uns kümmern, können sich keinen Rechtsanwalt leisten. Sie haben nicht genug Geld, um ihre Kinder in einen Kindergarten zu geben. Unser Angebot wird deshalb vom Staat und von Sponsoren finanziert.“
An die kostenlose Hilfe von Romodrom sind im Gegenzug einige Bedingungen geknüpft…
„Es gibt Anforderungen an die Klienten. Sie müssen unterschreiben, dass sie regelmäßig vorbeikommen und mit unseren Sozialarbeitern zusammenarbeiten, sodass sie Fortschritte machen. Im Gegenzug können sie etwa ihr Kind ab zwei Jahren in die Vorschule geben – und sich währenddessen auf die Suche nach einer Anstellung begeben. Der Nachwuchs kann in der Gruppe etwa malen und lernt, regelmäßig morgens aufzustehen, was sehr wichtig ist.“
Auch Angebote für Häftlinge hat Romodrom in petto. Und sehr schnell nach Beginn des russischen Angriffskrieges hat die Organisation auch auf die Situation Geflüchteter aus der Ukraine reagiert.
„Den weißen Ukrainern wurde mehr geholfen als den geflüchteten Roma. Für Letztere war gerade der Anfang in Tschechien sehr schwer.
Mittlerweile hilft Romodrom auch Roma direkt im Kriegsland…
„Wir liefern humanitäre Hilfe in die Ukraine, vor allem in die Städte Mukatschewo, Saritschewo, Peretschyn und Pawschyno. Dort, direkt an der Grenze zur Slowakei, leben die meisten Roma des Landes.“
In Tschechien ist die Organisation mittlerweile in allen Kreisen aktiv. Und Marie Gailová ist in den vielen Jahren ihres Engagements eines klar geworden:
„Wenn man mit der Roma-Community arbeitet, weiß man sehr schnell, was diese Menschen brauchen. So wie jeder benötigen auch sie Respekt. Leider sind wir stattdessen aber oft mit Unverständnis und Rassismus konfrontiert.“
Auf institutioneller Ebene würde man diesen negativen Einstellungen nur selten begegnen, Romodrom habe viele Unterstützer, die sich für die Arbeit stark machen, so Gailová. Doch in der breiten Bevölkerung sei die Stimmung leider anders.
„Die Menschen in Tschechien haben Angst vor Fremden“
Von der Diskriminierung der Roma in Tschechien kann Marie Gailová ein Lied singen. Aber woher rührt diese in weiten Teilen der Gesellschaft tief verwurzelte Aversion? Die Aktivistin sieht die Gründe in der Geschichte des Landes und dem Umstand, dass es sich um ein postkommunistisches Land handelt.
„Die Menschen in Tschechien haben Angst vor Fremden, weil sie mit diesen auch keine Erfahrung gemacht haben. Früher kamen ja höchstens Menschen aus Vietnam oder Kuba hierher. Was heute in diesem Land passiert, wäre in Amerika oder in England undenkbar. Dort leben Menschen so vieler Nationalitäten zusammen, dass sie einfach irgendwie miteinander auskommen müssen.“
Ein Teil des Problems sei auch, dass an den Schulen in Tschechien nur wenig Wissen über die Roma-Minderheit vermittelt wird. Aber die Situation ändere sich mitunter, so Gailová:
„Diskriminierung gibt es im Bildungssystem immer noch, aber nicht mehr so viel wie früher“, meint sie.
Hinzu komme, dass die jungen Menschen heute mehr von der Welt sehen würden als einst und dadurch offener seien.
Um die Situation weiter zu verbessern gibt es eben Organisationen wie Romodrom, die sich für die Menschen der Minderheit einsetzen. Auch das Kabinett von Premier Petr Fiala (Bürgerdemokraten) hat das Problem scheinbar erkannt. Ende vergangenen Jahres wurde der Posten einer Regierungsbeauftragten für die Angelegenheiten der Roma-Minderheit eingeführt. Das sei der richtige Ansatz, findet Marie Gailová:
„Einen anderen Weg gibt es nicht. Wir arbeiten eng mit staatlichen Institutionen zusammen – angefangen bei den Ministerien bis hin zu kleinen Gemeinden irgendwo in Tschechien. Wir kennen die Community, wissen, wie wir uns in ihr verhalten müssen. Das macht die Arbeit für uns leichter. Die Zusammenarbeit mit den Behörden ist von daher sehr wichtig – falls denn Interesse besteht.“
Roma sind in den Medien unterrepräsentiert
Zu einem Wandel in der Wahrnehmung von Roma kann auch die Kultur- und Medienlandschaft beitragen. In diesem Jahr gab es da zwei Durchbrüche. Beim Buchpreis Magnesia Litera wurde Patrik Bangas Roman „Skutečná cesta ven“ (deutsch: „Der wahre Ausweg“) zum Debüt des Jahres gekürt. Zum ersten Mal überhaupt wurde damit ein Roma-Autor bei dem tschechischen Buchpreis geehrt. Und beim Filmpreis Český lev (Böhmischer Löwe) wiederum wurde Marsell Bendig für seine Rolle im Film „Banger“ als bester Nebendarsteller gewürdigt. All das seien gute Nachrichten, findet Marie Gailová:
„Das ist super. Jede derartige Auszeichnung ist für uns Roma sehr wichtig, damit die Mehrheit uns anders wahrnimmt.“
Dennoch seien Roma gerade in Film und Fernsehen unterrepräsentiert. Wenn sie dann doch einmal auftauchten, würden sie oft klischeebehaftet dargestellt, kritisiert Gailová:
„Wenn man mir eine Rolle anbieten würde, wäre das die einer alten Zigeunerin in Tracht, die weder lesen noch schreiben kann. So jemanden würde ich auf keinen Fall spielen.“
Am Ende liegt es nicht nur an Medienunternehmen, NGOs und dem Staat, die Lage der Roma zu verbessern. Gefragt ist auch jeder einzelne. Was können die Menschen in Tschechien unternehmen? Darauf hat Marie Gailová eine klare Antwort:
„Das ist doch ganz einfach. Wir müssen uns kennenlernen wollen. Vielleicht trinken wir mal einen Kaffee zusammen? Ich könnte Sie zu mir nach Hause einladen – und Sie mich zu sich. Wir erfahren, wie der andere lebt, und die Welt wird gleich ein Stück schöner. Das ist mein Rezept: offen zu sein anderen Menschen gegenüber. Das reicht schon. Und man sollte sich zumindest anständig verhalten.“
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