Anna Hyndráková: Seitdem habe ich fast nie wieder geweint
Am vergangenen Wochenende wurde in Tschechien des größten Massenmordes an tschechoslowakischen Bürgern in der Geschichte gedacht. Vor genau 70 Jahren, am 8. März 1944, wurden in Gaskammern des KZs Auschwitz-Birkenau 3792 Männer, Frauen und Kinder ermordet. Weitere 6500 Juden aus dem Protektorat Böhmen und Mähren folgten im Juli 1944. Insgesamt sind mehr als 10.000 tschechoslowakische Bürger im so genannten Theresienstädter Familienlager ums Leben gekommen. So wird der von September 1943 bis Juli 1944 bestehende Lagerbereich in Auschwitz-Birkenau bezeichnet. Mehr als 17.500 jüdische Männer, Frauen und Kinder wurden dort eingepfercht, sie waren zuvor aus dem Ghetto Theresienstadt deportiert worden. Von den Insassen des Familienlagers überlebten nur knapp 1.200 Menschen den Holocaust. Unter ihnen war auch Anna Hyndráková, damals Kovanicová. Sie hat ihre Geschichte dem Tschechischen Rundfunk erzählt, im Rahmen der Sendereihe „Geschichten des 20. Jahrhunderts“.
„Ja, es gab manchmal antisemitische Äußerungen. Die Menschen empfanden nicht persönlich Abneigung gegen uns, das waren nur Ausnahmen, aber sie hatten Angst, dass sie von jemandem denunziert werden. Ich ging einmal mit einer Freundin, die ein Mischling war, über die Straße. Eine Frau hat sie ganz vulgär angeschrien: Schämst du dich nicht, mit einer Jüdin spazieren zu gehen? Die Freundin hat damals gesagt, sie wolle auch einen Stern tragen. Andererseits gab es auch Menschen, die uns zwar tagsüber nicht gegrüßt haben, aber in der Nacht zum Beispiel eine Zigarre für den Vater in den Briefkasten gesteckt oder auf andere Weise Sympathie oder Mitleid geäußert haben.“
Die Familie litt schnell an existenziellen Problemen. Die Eltern versuchten daher, zumindest die Töchter in die Emigration zu schicken. Wegen des Geldmangels gelang dies aber nicht. Am 12. September 1942 mussten Anna und ihre Eltern ihre Wohnung verlassen. Sechs Wochen verbrachten sie auf einem Sammlungsplatz in Prag. Am 24. Oktober trafen sie in Theresienstadt ein. Dort warteten bereits Annas Schwester und ihr Mann auf sie. Die Familie musste sich in Theresienstadt sogleich verstecken.„Als wir in Theresienstadt angekommen waren, sollte unser Transport aus mir unbekannten Gründen bestraft werden. Wir sollten innerhalb von drei Tagen weiter nach Osten gehen. Weil meine Schwester und mein Schwager davon wussten, haben sie uns bei einem Mann versteckt, der eine gewissermaßen privilegierte Stellung hatte. Einmal kam ein SS-Mann zu uns, aber in Zivilkleidung. Mein Vater war gut erzogen, er stand daher auf, reichte ihm die Hand und stellte sich vor. Der SS-Mann begann zu schreien, was erlaube sich der stinkende Jude. Aber der Mann, bei dem wir wohnten, hat alles vertuscht.“Wenn sich Anna an Theresienstadt erinnert, wandern ihre Erinnerungen nicht nur zu ihrer Familie, sondern auch zu ihren Erziehern und Lehrern:
„Als Transporte aus Holland kamen, mussten wir die Hamburg-Kasernen verlassen. Ich ging in ein Jugendheim, wo es ganz anderes war. Wir mussten in großen Zimmern zu etwa 24 Personen wohnen. Unsere Erzieherinnen waren hervorragend. Die Menschen, die sich dort um Kinder und Jugendliche kümmerten, haben sich sehr verdient gemacht. Es waren Hochschulprofessoren, die den kleinen Kindern Lesen und Rechnen beibrachten. Wir hatten dort eine Selbstverwaltung. Die Jungs haben den ganzen Tag gelernt, wir Mädchen gingen zur Arbeit und lernten erst danach. Das Leben dort war außergewöhnlich reich.“Im Mai 1944 wurden Anna und ihre Eltern dann in einem Viehwagen nach Auschwitz-Birkenau deportiert, in das so genannte Theresienstädter Familienlager.
„Der erste Eindruck war schön. Wir sind in der Nacht angekommen, haben nichts gesehen, nur Menschen in gestreiften Anzügen und SS-Leute und wir hörten die Hunde bellen. Wir dachten, in einem Krankenhaus zu sein. Wir kamen aus dem verdunkelten Europa, und dort gab es auf jedem Mast Licht. Die Reihen der Lichter erschienen uns wie Perlenreihen, es hat uns sehr beeindruckt. Dann kamen wir ins Lager B IIb. Das ist in Birkenau, es war das zweite Lager auf der rechten Seite der Rampe. Wir wurden nach der Ankunft nicht selektiert. Man hat uns einfach reingeführt und untergebracht. Männer auf einer Seite, Frauen auf der anderen.“Die Einwohner des Familienlagers genossen gewisse Privilegien. Sie wurden nicht sofort selektiert, sondern lebten dort sechs Monate in der so genannten Quarantäne. Ihre Haare wurden nicht abrasiert, und die Familien konnten sich im Lager ab und zu treffen. Das Lager entstand nach der Ankunft von mehr als 5000 Häftlingen aus Theresienstadt im September 1943. Sechs Monate später, in der Nacht vom 8. zum 9. März 1944 ermordeten SS-Leute die erste große Gruppe der Einwohner.
„Dort haben wir von den Gaskammern erfahren. Als wir im Mai 1944 ankamen, war der Transport vom September 1943 bereits vergast worden. Zwischenzeitlich gab es noch einen Transport aus dem Dezember, die Menschen haben den ersten Massenmord miterlebt und uns davon erzählt. Wir haben Kärtchen unterschrieben. Auf ihnen stand geschrieben, dass wir dort sechs Monate bleiben sollen, dann sollte eine Sonderbehandlung folgen. Wir wussten, was uns erwartet, und haben gewartet, was mit den Menschen aus dem Dezember-Transport nach sechs Monaten passieren würde. Wir haben Schornsteine gesehen, aus denen stets Qualm stieg, und den Gestank vom verbrannten Eiweiß gerochen. Die Menschen kamen an, aber nicht mehr zurück. Wir wussten also Bescheid.“ Nach einigen Monaten wurden im Familienlager Häftlinge ausgewählt, die arbeitsfähig waren. Darunter auch Anna Hyndráková. Die Eltern mussten im Familienlager bleiben und wurden dort umgebracht.„Wir kamen dann in das Frauenlager. Dort waren wir etwa eine Woche, und das war das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Dort gab es gemauerte Barackenblöcke und darin kleine Kojen. Wir haben eine Schüssel Suppe bekommen, aber keinen Löffel. Wir mussten die Suppe mit der Hand schlürfen. Und immer wieder mussten wir wahnsinnige Appelle ertragen. Einmal mussten wir nackt stehen, ein anderes Mal mussten wir knien. Dort habe ich den schlimmsten Terror erlebt.“
Über die Rampe konnten die Häftlinge aus dem Frauenlager das Familienlager sehen, in dem ihre Verwandten geblieben waren.„Wir konnten sehen, dass sie dort waren. Und sie wussten, dass wir auf der anderen Seite waren. Eines Tages war das Lager dann leer. Wir wussten nicht vorher, wer bessere Chance hatte, zu überleben, ob die Alten und Kinder oder die Arbeitsfähigen. Aber doch hofften wir, dass es die Arbeitsfähigen waren. Das hat sich bestätigt. Die Schornsteine rauchten und das Lager war leer. Mich überfiel dort Wut, Verzweiflung und Resignation. Seitdem habe ich fast nie wieder geweint.“
Auch Annas Schwester mit ihrer einjährigen Tochter und Annas Schwager kamen in Auschwitz um. Anna wurde dann später in ein anderes Lager geschickt:„Wir kamen nach Christianstadt, wo wir uns zunächst wie im Paradies fühlten. Das Lager lag mitten in Wäldern. Aber wir bekamen drei Tage lang nichts zu essen. Wir haben dort hart gearbeitet, aber trotzdem hielten wir es für ein relativ gutes Lager. Wir wurden zwar auch von SS-Frauen bewacht, aber sie waren nicht so grausam wie jene in Auschwitz.“
Im Februar 1945 wurde das Lager evakuiert, die Häftlinge mussten auf einem Todesmarsch von dort nach Bergen-Belsen laufen. Während des Marsches versuchte Anna mit zwei Freundinnen zu flüchten. Allerdings wurden sie auf der Flucht verhaftet und in ein anderes Lager eingewiesen. Erst im Mai gelang es Anna erneut zu flüchten. Am 11. Mai kehrte sie nach Prag zurück. Sie war die einzige aus der Familie, die den Krieg überlebt hat.