Austausch über die Grenzen hinweg? Tschechen und Deutsche zwischen Annäherung und Entfremdung
Wie steht es um die Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen 25 Jahre nach der Deutsch-Tschechischen Erklärung? Wir haben junge und alte Menschen in Tschechien und Deutschland nach ihrem Bezug zum jeweils anderen Land befragt. Dabei sind wir auf ganz unterschiedliche deutsch-tschechische Geschichten gestoßen.
Deutsche Studierende, tschechische Schüler, deutsch-tschechische Universitätsprofessoren, Angehörige der deutschen Minderheit in Tschechien: Sie alle haben irgendwie etwas mit den Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien zu tun. Doch für jeden von ihnen macht dieses Verhältnis etwas anderes aus.
Ein Blick auf die Volkszählung in Tschechien aus dem vergangenen Jahr zeigt: Die Angabe von mehreren nationalen Identitäten hat zugenommen – insbesondere bei Menschen mit deutschen Vorfahren. Während 2011 nur 5000 Menschen neben der tschechischen Identität auch deutsch angaben, hat sich diese Zahl 2021 verdreifacht. Das hat auch Martin Dzingel überrascht. Er koordiniert als Leiter der Landesversammlung die Vereine der deutschen Minderheit in Tschechien:
„Das ist ein gutes Zeichen, weil die Minderheit nicht ausstirbt – was man eigentlich in wissenschaftlichen Kreisen denkt. Weil heute lebt man in einer globalen Zeit. Die jüngeren Menschen haben nicht das Bedürfnis, sich zu spezifizieren: ‚Ich bin ein Deutscher nach meinen Vorfahren und nichts anderes.‘ Das ist auch nicht modern. Muss man auch verstehen.“
Dzingel gibt aber auch zu: Man habe das tschechische Statistikamt ČSÚ darum gebeten, die Angabe von anderen Staatszugehörigkeiten explizit auszuwerten. Diese Möglichkeit gab es viele Jahre lang nicht. Wie repräsentativ und aussagekräftig dieses Ergebnis ist, lässt sich daher nicht sagen.
Deutsche Kultur wird tschechische Kultur
Zu Besuch bei einem, dem dieses Ergebnis wenig Hoffnung macht. Roman Klinger liebt nicht nur die über 100 Jahre alte Orgel in seinem Dorf Mikulášovice / Nixdorf nahe der sächsischen Grenze. Er engagiert sich auch für regionale Traditionen – und spricht mit Mitte 30 noch fließend Deutsch. Damit gehört er quasi zu einer aussterbenden Art in der Region.
„Die Jugend interessiert sich nicht dafür. Aber das ist halt so. Mein Ziel ist nur, dass das Bewusstsein von der deutschen Kultur erhalten bleibt. Was die Minderheit angeht, würde ich sagen: Wenn die letzten Leute im Dorf sterben, die jetzt noch aktiv im Alltag Deutsch sprechen, dann ist es mit der deutschen Minderheit hier erledigt. Aber trotzdem leben wir Nachkommen hier“, so Klinger.
Diese Überzeugung hat ihn dazu getrieben, etwas zu schaffen, was nahezu unmöglich erscheint. Er hat eine alte Tradition wiederbelebt, die er nur aus den Erzählungen seines Großvaters kannte: das Osterreiten. Viele Tschechen im Dorf seien aber skeptisch gewesen, auch Sudetendeutsche hätten ihm öffentlich kulturelle Aneignung vorgeworfen. Die Reaktion nach dem ersten Osterreiten 2011 sei dann aber ganz anders ausgefallen, sagt der Initiator:
„Viele hatten beim ersten Osterreiten Tränen in den Augen. Die deutsche Kultur ist zur tschechischen geworden. Es ist angenommen worden. Es ist ein Schritt zur Versöhnung.“
Dieser Erfolg von deutscher Traditionswiederbelebung bleibt aber die Ausnahme. Ist eine familiäre Verbindung heute überhaupt noch nötig, um sich für ein Land zu interessieren? Insbesondere an den Universitäten und Schulen der Grenzregionen in Sachsen und Bayern gibt es viele Austauschprogramme für Studierende und Schüler. In Plzeň / Pilsen kann man sogar „Bayern-Studien“ als Fach wählen, um als Tscheche im Nachbarland problemlos Karriere zu machen. Führen solche Studienprogramme zur langfristigen Auseinandersetzung mit dem Nachbarland? Maren Wurm hat drei Jahre lang tschechische Philologie in Regensburg studiert. Aktiv spricht sie die Sprache heute aber nicht mehr:
„Für Tschechien hab ich mich damals stark interessiert, vor allem für die Geschichte des Landes Tschechiens. Mit tschechisch habe ich aktuell nicht mehr viel zu tun, da ich nach dem Studium keine weiteren Kurse mehr belegt habe. Und ich habe es leider aufgrund der Corona-Pandemie nie geschafft, ein Auslandssemester zu machen. Deshalb schläft mein Tschechisch immer mehr ein, habe ich die Befürchtung.“
Wurm versucht zwar, tschechische Nachrichten und Bücher zu lesen – das fällt ihr im Alltag aber nicht immer leicht. Die Begeisterung für Tschechien ist jedoch nach wie vor geblieben. Und sie wünscht sich, dass jungen Menschen vermehrt vermittelt wird, wieviel man vom Nachbarland lernen kann.
„Um das Interesse von Deutschen und Tschechen aneinander zu stärken, muss man vor allem auf Mittel wie einen Schulaustausch setzen. Denn das ist eben eine gute Kontaktmöglichkeit für junge Leute, um herauszukommen, um etwas anderes zu sehen. Das kann ja zum Beispiel auch ein englischsprachiger Austausch sein. Aber ich denke, dass das enorm wichtig ist“, so Maren Wurm.
Schüleraustausch mit Sprachbarriere
Einen solchen Austausch gibt es in Stuttgart. Obwohl die schwäbische Metropole über 400 Kilometer von Tschechien entfernt ist, hat sie Brünn als tschechische Partnerstadt. An mehreren Stuttgarter Schulen organisiert der „Förderverein Schulpartnerschaften Brünn-Stuttgart“(Spolek pro podporu partnerstvi škol Brno-Stuttgart) deshalb Austauschprogramme, zum Beispiel am Ferdinand-Porsche-Gymnasium. Hier besprühen deutsche und tschechische Schüler bei einem Kunstprojekt im Juni gemeinsam Taschen mit den Sehenswürdigkeiten von Brünn und Stuttgart. Elizabetha aus Brünn will auf ihre Tasche einen Schmetterling mit den Farben der deutschen Nationalflagge besprühen.
Bei der Kommunikation wirds aber manchmal schwierig: Elizabetha soll mit ihrer Austauschschülerin Deutsch sprechen, Maja aus Stuttgart kann aber kein Tschechisch. Und so wird dann doch oft ins Englische gewechselt. Elizabetha sieht vor allem einen praktischen Nutzen in ihren deutschen Sprachkenntnissen:
„Deutsch ist eine schöne Sprache. Viele Tschechen gehen nach Deutschland, weil man hier mehr verdient. Und es gibt viele Länder, in denen man Deutsch spricht, zum Beispiel auch in Österreich.“
Maja hat ihre Austauschpartnerin Elizabetha vor ein paar Wochen mit ihrer Klasse in Brünn besucht. Nun kennt sie immerhin ein paar Floskeln auf Tschechisch. Und es hat ihr Bild von Tschechien als Land verändert:
„Ich hab’s eigentlich anders erwartet, nicht so modern, glaube ich. Es ist richtig schön, ich würde nochmal hingehen.“
Kunstlehrerin Monika Schlacht freut sich zu sehen, dass die Schüler beider Länder nach der Corona-Pandemie gemeinsam aufblühen und sich austauschen.
„Die Schüler waren während Corona auf ihr Kinderzimmer fixiert. (…) Ja und jetzt – so ein Austausch ist das komplette Gegenteil, sie müssen Kontakt aufnehmen. Und wir bieten den Rahmen. Es tut ihnen gut, offen zu werden gegenüber neuen Impulsen, einer neuen, eigentlich ähnlichen Kultur und zu sehen: Wir haben eigentlich ganz viel gemeinsam“, findet Monika Schlacht.
Schüleraustausch, Angebote für Studierende und der Kampf ums Überleben der deutschen Kultur bei den Minderheiten in Tschechien – sieht so ein bilateraler Austausch zwischen zwei europäischen Nachbarländern im Jahr 2022 aus? Auf regionaler Ebene gebe es viel Austausch, auch bei jungen Menschen in Studium und Schule, sagt Vladimír Handl. Darüber hinaus fehle die Zusammenarbeit aber an vielen Stellen, zum Beispiel in der Parteipolitik oder beim Klimawandel, kritisiert der Politikwissenschaftler. Handl arbeitet unter anderem als Dozent für das Fach „deutsch-österreichische Studien“ an der Prager Karlsuniversität.
„Wir beobachten sehr oft, dass wir gute Beziehungen haben, keine Probleme, aber keinen wirklich intensiven Austausch, es ist kein Zusammenwachsen über die Grenze“, kritisiert der Politologe.
Was Handl und auch die Lehrkräfte des Schüleraustausches Brünn-Stuttgart beängstigt: Das tschechische Bildungsministerium plant, die Pflicht zum Erlernen einer zweiten Fremdsprache an Schulen abzuschaffen. Dabei ist das meist die Voraussetzung dafür, dass Schüler ins deutschsprachige Ausland gehen oder später ein Studium auf Deutsch beginnen.
„Studenten aus dem Gymnasium, die lernen alle Sprachen der Welt. Aber Kinder, die aus der Schule direkt ins Berufsleben gehen, werden das nicht mehr nachholen. Das ist ein falscher Ansatz“, so Handl.
Die Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien und der jeweiligen Bevölkerung sind so unterschiedlich wie die beiden Länder. Was zu fehlen scheint, ist eine klare Vision für viele Bereiche: die Zukunft der aussterbenden deutschen Minderheit, die Sprachvermittlung an Schulen oder im Studium. Eine Aufgabe, über die sich beide Länder anlässlich des diesjährigen 25-jährigen Jubiläums der Deutsch-Tschechischen Erklärung künftig Gedanken machen sollten.