Besetzung des Rednerpultes: Tschechisches Abgeordnetenhaus erlebt ungestüme Debatte

Tschechisches Abgeordnetenhaus

Die Verhandlungen zur Senkung der Rentenanpassung hat das tschechische Abgeordnetenhaus Ende vergangener Woche an die Grenzen der demokratischen Debatte gebracht.

Andrej Babiš | Foto: Martin Vaniš,  Radio Prague International

Der Abgeordnete und Vorsitzende der Oppositionspartei Ano, Andrej Babiš, wies fast trotzig die Aufforderung des Verhandlungsführers zurück, das Rednerpult zu verlassen. Nach mehr als 80 Stunden Verhandlungszeit war am Freitagabend im tschechischen Abgeordnetenhaus nicht nur der Ton eskaliert. Die Parlamentarier der beiden Oppositionsparteien Ano sowie „Freiheit und direkte Demokratie“ (SPD) hatten sich außerdem um das Rednerpult versammelt und blockierten das Mikrofon.

„Geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen Folgendes sagen: Wenn Sie Tag und Nacht und Tag und Nacht hier verbringen wollen, dann bewegen wir uns von diesem Rednerpult nicht weg. Wir bewegen uns nicht weg!“

So die Ansage der Vizefraktionsvorsitzenden von Ano, Jana Pastuchová. Mit dieser Besetzung protestierte die Opposition gegen die zuvor von der Parlamentsleitung beschlossene Einschränkung der Redezeit auf zweimal fünf Minuten. Dies galt auch für Abgeordnete mit vorrangigem Rederecht, die normalerweise unbeschränkt lange sprechen dürfen.

Aber worum ging es im Parlament überhaupt? Am Dienstagvormittag kam das Plenum zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen, um die Regierungspläne zu einer Verringerung der gesetzlich festgelegten Rentenanpassung an die Inflation zu verhandeln. Letztlich wurde am Samstag dann auch beschlossen, dass die Rentner ab Juni nur 760 Kronen (32 Euro) monatlich mehr bekommen anstatt der geplanten 1770 Kronen (75 Euro). Zuvor hatte die Opposition die Sitzung aber in einer beispiellosen Obstruktion in die Länge gezogen. Zum einen reichte sie 370 Änderungsvorschläge ein, über die einzeln abgestimmt werden sollte. Zum anderen gab es außergewöhnlich lange Redebeiträge. Der SPD-Vorsitzende Tomio Okamura etwa kam auf eine Rekordzeit von sieben Stunden. Nach der Blockade vom Freitag sagte er gegenüber der Presse:

„In Zuwiderhandlung zum Gesetz über die Geschäftsordnung wurde uns die Möglichkeit genommen, unser Vorrangrecht der Rede zu nutzen. Erst nach enormer Druckausübung von unserer Seite ist sich die regierende Fünferkoalition dessen bewusst geworden.“

Die Besetzung des Rednerpultes konnte nach etwa einer Stunde beendet werden. Parlamentsleitung und Fraktionsvorsitzende einigten sich auf eine weitere Unterbrechung der Sitzung und die teilweise Aufhebung der Redebeschränkung. Am Samstagvormittag konnte dann auch abgestimmt werden, und die fünf Regierungsparteien setzten sich entsprechend ihrer Parlamentsmehrheit durch. Marek Vyborný, Fraktionsvorsitzender der mitregierenden Christdemokraten, zeigte sich erleichtert, aber auch besorgt:

„Ich bin froh, dass eine Lösung gefunden wurde, um die Blockade der Sitzung zu beenden. Die Szenen, die sich davor abgespielt haben, sind weit entfernt davon, wie eine politische Kultur im tschechischen Parlament aussehen sollte.“

Fünf Tage und vier Nächte war mit nur kurzen Pausen insgesamt verhandelt worden. Der Verfassungsrechtler Jan Wintr von der Prager Karlsuniversität räumte in einem Interview im Tschechischen Rundfunk ein, dass die Einschränkung der Redezeit nicht gänzlich mit dem üblichen Vorgehen in der unteren Parlamentskammer übereingestimmt habe. Eigentlich hätten Fraktionsvorsitzende, Parteivorsitzende, die Parlamentsvorsitzende und ihre Stellvertreter sowie Regierungsmitglieder eine unbeschränkte Möglichkeit, das Wort zu ergreifen. Dies sei aber in der Geschäftsordnung nicht festgeschrieben, merkte Wintr an. Es handle sich vielmehr um einen Usus, den es abzuschaffen gelte. Und weiter:

„Aber dass die Verhandlung des Abgeordnetenhauses physisch blockiert wird, ist ein sehr gefährlicher Präzedenzfall. Da könnte auch jeder Bürger, der mit einer Amtsentscheidung nicht einverstanden ist, mit Gewalt dagegen Widerstand leisten. Dies ist also ein sehr schlechtes Signal.“

Ähnlich äußerte Premier Petr Fiala (Bürgerdemokraten) nach den Ereignissen die Hoffnung, dass es im Abgeordnetenhaus nun zu einer neuen und besseren Form der Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition komme. In einer Diskussionssendung im öffentlich-rechtlichen Tschechischen Fernsehen (ČT) kündigte er am Sonntag außerdem an, dass sein Kabinett das bestehende Rentenanpassungssystem dauerhaft ändern wolle. Sollte die am Samstag beschlossene Anpassung für Juni nun die Zustimmung des Senats und die Unterschrift des Präsidenten bekommen, will die Opposition dagegen Klage beim Verfassungsgericht einreichen.

Autoren: Daniela Honigmann , Vojtěch Tomášek
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