Blockierte EU: Mit bedrohtem Etat steht auch milliardenschwerer Hilfsfonds auf der Kippe
Ein gemeinsames Veto von Polen und Ungarn blockiert die Haushaltsverhandlungen der Europäischen Union. In Verbindung damit ist ein millionenstarker Hilfsfonds bedroht, der die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise abfangen soll. Der tschechische Außenminister Petříček hat sich dazu in der vergangenen Woche mit seinen Kollegen aus der „Central 5“-Gruppe beraten.
Die Bewältigung der Corona-Krise und die aktuelle Pattsituation in der Europäischen Union – die Außenminister Tschechiens, Sloweniens, Österreichs und der Slowakei hatten bei ihrem Working Lunch am Mittwoch vergangener Woche schwerwiegende Themen zu besprechen. Dabei versuchten sie die harten Fronten zu vermeiden, die die aktuellen EU-Haushaltsverhandlungen kennzeichnen. Bei der Pressekonferenz nach dem Arbeitstreffen herrschte ein freundschaftlicher Ton, man signalisierte Einigkeit. Der Gastgeber, Tschechiens Außenminister Tomáš Petříček (Sozialdemokraten), lobte zunächst die aktuelle Zusammenarbeit:
„Wir können feststellen, dass wir in den vergangenen Monaten unsere Koordination verbessert haben. Dies ist eine wichtige Grundlage, um angemessen auf die Corona-Pandemie zu reagieren. Zudem ist sie von Bedeutung für den freien Verkehr von Waren und Menschen sowie für den Schutz der Bevölkerung. In ihr drückt sich außerdem unsere Solidarität aus.“
Beim Treffen fehlte – coronabedingt, wie es hieß – der ungarische Kollege als Fünfter in der Runde. In dieser Konstellation hatten sich die Chefdiplomaten der fünf Staaten im Zentrum Europas erstmals im Juni dieses Jahres getroffen, um ihre Corona-Politik zu harmonisieren. Seitdem trägt dieser lose Zusammenschluss den informellen Namen „The Central 5“ (Die zentralen Fünf). Sloweniens Außenminister Anže Logar:
„Ich bin sehr froh, dass wir mehr oder weniger die gleichen Ansichten haben zur Weiterführung dieses Formats. Wir stimmen überein, dass wir eine Lösung für den EU-Finanzrahmen finden müssen. Wir brauchen die finanzielle Unterstützung, die den Mitgliedsstaaten helfen wird, die schwierige wirtschaftliche Lage zu überwinden, die durch die Corona-Krise hervorgerufen wurde.“
Dabei geht es um 750 Milliarden Euro, die den Mitgliedsstaaten dank dem Hilfsfonds „NextGenerationEU“ (Die EU der nächsten Generation) zukommen sollen. Der Fonds ist Teil des EU-Haushaltes der kommenden sieben Jahre und soll mit ihm schon im Januar in Kraft treten. Der Gesamt-Etat umfasst 1,8 Billionen Euro und ist das größte Haushaltspaket, das die EU je auf den Weg gebracht hat. Der slowakische Chefdiplomat Ivan Korčok betonte die Bedeutung dieses Pakets:
„Das wichtigste Thema ist der Umgang mit den sehr direkten wirtschaftlichen Folgen dieser Krise in der Zukunft. Wir müssen vorhandene Mittel zugänglich machen. Wir haben unsere Zustimmung gegeben zum Siebenjahreshaushalt und zum Wiederaufbauplan NextGenerationEU. Die Probleme auf dem Weg zur Umsetzung sind offensichtlich.“
Blockade der EU-Haushaltsverhandlungen
Damit sprach der Slowake die Blockade durch Polen und Ungarn an. Die Zahlungen aus dem Hilfsfonds sind nämlich an eine Bedingung gebunden: Die Empfängerländer müssen das Rechtsstaatsprinzip einhalten. Der polnische Premier Mateusz Morawiecki und sein ungarischer Kollege Viktor Orbán lehnen diese Kopplung ab. Deswegen haben beide am Montag vergangener Woche ihr Veto eingelegt und die Haushaltsverhandlungen damit gestoppt.
Das wirft die EU auf ihre Grundfeste zurück. Tatsächlich haben sich die Staaten einst unter anderem deswegen zusammengeschlossen, um ihre Rechtsstaatlichkeit zu schützen. Ivan Korčok:
„Das Rechtsstaatsprinzip ist das eigentliche Wesen der EU, es geht nicht ohne. Die EU würde gar nicht existieren ohne das Rechtsstaatsprinzip. Ich bedauere sehr, dass es jetzt zum Instrument in dieser Diskussion gemacht wird. Das kann niemandem in der EU gefallen.“
Der im Corona-Hilfsfonds eingebaute Rechtsstaatsmechanismus würde bedeuten, dass bei einem Verstoß dem jeweiligen Land teilweise oder völlig der Zugang zu EU-Geldern gesperrt werden kann. Viktor Orbán fühlt sich erpresst. Der ungarische Regierungschef vermutet darin ein Druckmittel, um die von ihm abgelehnte Flüchtlingspolitik durchzusetzen. Das kann Vít Havelka nicht bestätigen. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Politik, Europeum. In den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks sagte er:
„Im Grunde wird nichts Neues gefordert beziehungsweise nichts, was heutzutage auf dem europäischen Kontinent nicht schon selbstverständlich sein sollte. Ich bin in der Vorlage auf keinerlei Hinweise gestoßen, dass EU-Länder zum Beispiel dafür bestraft werden sollen, dass sie die Aufteilung von Flüchtlingen ablehnen. Davon hatte nämlich der ungarische Premier Viktor Orbán gesprochen.“
Wirklich überraschend ist die Haltung von Orbán und Morawiecki nicht. Der Europäische Rat hat in beiden Ländern Verfahren zur Prüfung der Rechtsstaatlichkeit in Gang gesetzt. Es gibt Bedenken, was die Unabhängigkeit der Justiz und der Medien angeht. Mit dem Veto ist dieser Streit nun in Gänze ausgebrochen.
Auch die Harmonie der „Central 5“ wird durch das Vorgehen ihres Mitglieds Ungarn vor Herausforderungen gestellt. Für zusätzlichen Zündstoff sorgt ein Brief von Sloweniens Premier Janez Janša, in dem er die Position von Polen und Ungarn unterstützt. Sein Außenminister Logar war in Prag um Schlichtung bemüht:
„Das Wichtigste ist: Das Rechtsstaatsprinzip ist die Grundlage der Europäischen Union. Es sollte keinen Spielraum für Manöver geben, die diesen Wert politisieren. In dem Brief wird deutlich betont, dass das Rechtsstaatsprinzip die Grundlage der EU ist, und die Institution, die darüber entscheidet, ist das Gericht. Das sind nicht die Politiker.“
Nicht nur Orbán und Morawiecki zeigen sich unnachgiebig. Ohne die Kopplung an den Rechtsstaatsmechanismus ist wiederum das EU-Parlament nicht bereit, den Haushalt zu bewilligen. Frankreich und Holland verweigern sogar jegliches Einlenken und wollen Wege finden, den Krisenfonds ohne die beiden Abweichler zu verabschieden. Vít Havelka:
„Das stellt ein großes Problem dar, weil die Verhandlungen blockiert zu sein scheinen. Weder die Seite, die die Vorgabe zum Schutz des Rechtsstaats befürwortet, noch die, die sich dagegenstellt, will von ihrer Position abweichen. Jetzt herrscht ein Krieg der Nerven.“
Die Hoffnung liegt auf Merkel
Alle Hoffnung liegt nun, wie so oft in EU-Angelegenheiten, auf Angela Merkel. Deutschland hat noch bis Jahresende den Vorsitz im Europäischen Rat inne und will ihn mit einer Einigung in der Haushaltsfrage abschließen. Laut Petříček hat Tschechien bereits dem Kompromiss zugestimmt, der im Oktober ausgehandelt wurde, als sich der Konflikt abzuzeichnen begann. Er sieht dafür eine Mehrheit im Rat:
„Wir erwarten, dass in den kommenden zwei Wochen sehr intensive Verhandlungen stattfinden. Wir unterstützen die Präsidentschaft in ihren Bemühungen, die aktuelle Blockade zu überwinden. Unsere Position wird geteilt von unseren Kollegen im Europäischen Rat. Also besteht eine reelle Chance für eine Einigung, noch bevor die deutsche Ratspräsidentschaft endet.“
Die Videokonferenz der EU-Staatschefs am Donnerstag vergangener Woche verlief in der Hinsicht ergebnislos. Seitdem führt Merkel Einzelverhandlungen. Nach Ansicht von Ivan Korčok genießt die Kanzlerin genügend Respekt, um eine Einigung zu erreichen:
„Es gibt immer noch Spielraum, um eine Lösung zu finden und die Angelegenheit zu entpolitisieren. Denn die Bürger der EU erwarten von uns die Umsetzung des Finanzplans und die Wiederbelebung der Wirtschaft. Nur so können wir das Vertrauen unserer Bürger in die EU zurückgewinnen.“
Die EU-Kommissionsvorsitzende Ursula von der Leyen hat Polen und Ungarn am Mittwoch dieser Woche noch einmal angemahnt, die Blockade zu beenden. Sie könnten sich auf den Europäischen Gerichtshof verlassen, der für eventuelle Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip zuständig ist. Am Tag darauf trafen sich Morawiecki und Orbán in Budapest, um sich gegenseitig noch einmal in ihrer Haltung zu bestärken. Diesmal hieß es von ihrer Seite sogar, dass die Kopplung des Rechtsstaatsprinzips an den Haushalt eine Änderung grundlegender EU-Verträge erfordern würde.
Der slowakische EU-Abgeordnete Michal Šimečka hält das Veto allerdings für einen Bluff. Auch Vít Havelka glaubt, dass weder Morawiecki noch Orbán die Blockade aufrechterhalten werden und können. Dazu stehen für beide zu viele Finanzmittel auf dem Spiel. Sollte aber bis Jahresende tatsächlich keine Einigung erzielt werden, träte im Januar ein Provisorium in Kraft, das sich an dem aktuellen Haushalt orientiert. Der Corona-Hilfsfonds würde dann verspätet und nur in geringem Umfang ausgezahlt. Laut Korčok wäre das fatal:
„Er ist das wichtigste Instrument der EU, um die Wirtschaftskrise zu überwinden, die uns unvermeidlich bevorsteht. Dadurch wird den Mitgliedsstaaten ein ökonomischer Impuls für ihren Aufschwung gegeben. Wir brauchen das einfach.“
Alle anwesenden Außenminister gaben sich beim Treffen in Prag zuversichtlich, dass die Pattsituation überwunden werden kann. Sollten Polen und Ungarn aber tatsächlich nicht einlenken, gibt es Vorschläge, die Geldervergabe ohne sie durch zwischenstaatliche Abkommen zu regeln. Vít Havelka sieht hierin das größte Risiko:
„Daraus könnte ein Europa der zwei Geschwindigkeiten entstehen. Das wäre problematisch für die Tschechische Republik, für die Slowakei, für Bulgarien, Rumänien und Schweden. Das wäre eine Art nukleare Lösung, die aber erst auf die Tagesordnung kommt, wenn es keine andere Möglichkeit zum Kompromiss mehr gibt.“
Davon sei die EU aber weit entfernt, so der Politologe. Ivan Korčok verwies aber noch einmal auf die drängende Zeit:
„Die Europäische Union steht nicht am Scheideweg wegen Corona. Europa hat sich schon mehrmals am Scheideweg befunden, in den letzten zehn Jahren sogar anhaltend. Diesmal haben wir aber keine Zeit. Wir müssen sofort liefern. Neben dem Schutz der Gesundheit unserer Bürger ist das wichtigste Anliegen meiner Meinung nach die wirtschaftliche Erholung. Das ist das Momentum, das wir unverzüglich in Gang setzen müssen für die kommenden Tage und Wochen.“