Das Kind ist in den Brunnen gefallen - der Fall "Ondra" in den Medien
Das Wort "Medialisierung" ist in Tschechien seit einigen Wochen in aller Munde. Anlass ist ein Fall von Kindesmisshandlung, über den in den Medien detailliert berichtet wurde. Zu detailliert, wie viele meinen, die an den Schutz von minderjährigen Opfern denken. In der Politik ist hektischer Aktivismus ausgebrochen, der von der Presse kritisch beäugt wird. Dass es Regelungsbedarf gibt, darüber herrscht wohl weitgehend Einigkeit.
In einer schlechten Schwarzweiß-Aufnahme ist zu sehen wie der achtjährige Ondra, an Händen und Füßen mit Klebeband gefesselt, in einer kleinen Kammer liegt, während seine Mutter ihm mit befehlsartigen Anweisungen etwas in den Mund schiebt. Diese Aufnahmen sind an die Öffentlichkeit gedrungen, seit dieser Fall von Kindesmisshandlung aufgedeckt wurde. Name, Alter und Adresse der Personen auf den Bildern wurden gleich mitgeliefert. Aber damit nicht genug. Auch das vertrauliche Protokoll über das Gesprächs der zuständigen Behörden mit dem Kind ist auf unbekannte Weise bis in die Redaktionen der Republik vorgedrungen. Nun ist eine Diskussion entfacht über den Schutz minderjähriger Opfer. Die Journalistenvereinigung der Tschechischen Republik äußert in einer Pressemeldung vom 17. Mai Verständnis für die Bemühungen der Journalisten, die Öffentlichkeit über die Misshandlung des achtjährigen Jungen zu informieren, um "gegen die Gleichgültigkeit der Bürger in solchen Fällen anzugehen". Aber, so heißt es in der Pressemeldung weiter,...
"...das heißt nicht, dass ein Journalist die Berechtigung hat, Informationen zu besorgen und zu veröffentlichen, die im krassen Widerspruch stehen zu den Forderungen im Ethik-Kodex der Journalisten. Die Journalistenvereinigung der Tschechischen Republik macht erneut auf Punkt 3 Absatz d) des Kodex aufmerksam, der den Journalisten die Pflicht auferlegt die persönliche Privatsphäre zu respektieren vor allem von Opfern von Straftaten sowie von Kindern und Personen, die nicht imstande sind die Folgen ihrer Aussagen abzusehen. Des Weiteren haben sie die Pflicht die Identität der Verwandten des Opfers oder des Täters nicht ohne deren Erlaubnis bekannt zu geben. Die Veröffentlichung der Aussage des Kindes, seiner Fotografie sowie die Veröffentlichung von Details und Spekulationen über diesen Fall hat nichts zu tun mit öffentlichem Interesse."
Alle drei großen Fernsehstationen in der Tschechischen Republik konnten nicht widerstehen und haben wiederholt in ihren Nachrichten-Programmen die Video-Aufnahmen von der Misshandlung des achtjährigen Jungen gesendet. Daran nimmt die Journalistenvereinigung in ihrer Verlautbarung Anstoß.
"Ich teile voll und ganz die Ansicht der Journalistenvereinigung. Ich denke, dass solch ein Bildmaterial niemals gesendet werden sollte."
Das sagte die Vorsitzende des "Regierungsausschusses für die Rechte der Kinder", Eva Vanickova, am 21. Mai in einem Gespräch mit dem Tschechischen Rundfunk. An diesem Tag war der Ausschuss zu einer außerordentlichen Sitzung zusammengetreten. Warum, das erklärt die Vorsitzende Vanickova:
"Wir haben heute eine außerordentliche Sitzung einberufen, um über das Defizit des Opferschutzes bei Kindern in der Tschechischen Republik zu beraten. Wir können auch an dem aktuellen Fall sehen, dass das Jugendgesetz, das seit 2004 gilt, den Schutz von jugendlichen Straftätern sicher stellt. Also das Recht auf Privatsphäre und den Schutz der Identität. Die Mitglieder des Ausschusses sind der Ansicht, dass zum Schutz von kindlichen Opfern nicht die gleichen gesetzlichen Regelungen bestehen, ja dass es sogar eine Diskriminierung der Opfer gibt. Und es ist richtig, dass die Medialisierung dieses Falles Dynamik in die Verhandlungen über diesen Punkt gebracht hat."Hat der Ausschuss ein Rezept gefunden, wie in Zukunft verhindert werden kann, dass junge Opfer von Straftaten ungeschützt in der medialen Öffentlichkeit stehen?
"Ich weiß nicht, ob es ein Rezept ist, aber wir haben uns im Ausschuss darauf geeinigt, dass wir eine Korrektur der gesetzlichen Regelungen vorschlagen werden. Wir haben Ministerin Stehlikova aufgefordert mit Justizminister Jiri Pospisil zu beraten, ob ein neues Gesetz erforderlich ist oder eine Modifizierung des bestehenden Strafgesetzes oder des Jugendgesetzes. Der Opferschutz soll mindestens so weit gehen, wie der Schutz jugendlicher Straftäter. Das bedeutet Zurückhaltung aller Informationen, die eine Identifizierung des Kindes ermöglichen. Das muss auch für alle Personen gelten, die in die Untersuchung des Falles oder die Behandlung des Kindes einbezogen sind. Auf diese Weise muss verhindert werden, dass diese Informationen sowie Bild- und Tonaufnahmen, die zur Identifizierung des Kindes führen können, in die Medien und damit in die Öffentlichkeit gelangen können."
Der Fall des kleinen Ondra hat Bewegung in die Politik gebracht. Premier Topolanek selbst und einige Minister haben sich eingeschaltet. Anvisiert hat man eine Verschärfung der Gesetze zum Opferschutz. Justizminister Jiri Pospisil denkt an eine der Strafe in Höhe von 50.000 Kronen (rund 1800 Euro) für mediale Veröffentlichung wie im Fall Ondra. Die Situation soll aber nicht nur durch eine Verschärfung der Gesetzgebung erreicht werden, sondern auch durch eine neue Institution, das so genannte "Nationale Amt für Beschäftigung und Sozialverwaltung". Das soll die Kompetenzen, die zurzeit noch bei den Kreisen liegen, beim Staat bündeln. Wie beurteilt die Presse die Aktivitäten der Politik?
Der Kommentator der Tageszeitung Mlada Fronta Dnes, Ivan Hamsik, stellt lakonisch fest:
"Regierungsämter befassen sich damit, wie man die Opfer von Straftaten in den Medien schützen kann. Das ist sicher richtig, nur dass das nicht den Kindern hilft, die gerade jetzt irgendwo gefesselt liegen."
Michal Semin kritisiert vor allem die hektische Aktivität, die unter den Politikern ausgebrochen ist. Er befasst sich - ebenso in der Mlada Fronta Dnes - mit der Tatsache, dass die Schulministerin Dana Kuchtova den Individual-Unterricht, sprich den Unterricht von Kindern zu Hause einschränken möchte. Ondra wurde von seiner Mutter und seiner Tante unterrichtet:
"Ob nun die Geschichte der Familie Mauer eine mediale Blase oder tatsächliches Versagen der Familie ist, die Politiker wissen, dass an allem schlechte Gesetze schuld sind und dass es nicht zu Kindesmisshandlungen kommen müsste, wenn die Gesetze besser wären. Als Beispiel für diesen Kurzschluss dient die Äußerung der Schulministerin Kuchtova, dass man eine andere gesetzliche Regelung für den Hausunterricht braucht. Sicher führen sie zu diesem Gedanken gute Absichten. Es ist jedoch nötig abzuwägen, ob eine Verschärfung des Gesetzes, also die Bemühungen um Prävention, nicht zu einer Verschlechterung der Situation führt."
Unter dem Titel "Das Ministerium der Fürsorge" sieht auch der Kommentator der Tageszeitung "Pravo", Jiri Franek, eine gesetzliche Schieflage, was den Opferschutz betrifft:
"Es ist in der Tat unbegreiflich, dass jeder Journalist die Pflicht hat, die Identität eines 14-jährigen Straftäters zu schützen, während ein um die Hälfte jüngeres Kind tagtäglich auf den Fernsehbildschirmen zu sehen ist - nackt und gefesselt, mit vollem Namen und Adresse. Sogar das Gesprächsprotokoll ist - wegen des größeren Effekts mit einer Kinderstimme gelesen - im Fernsehen zu hören. Was jedoch den bedeutendsten und tatkräftigsten Schritt der Regierung betrifft, mit dem sie präventive Maßnahmen zu Verhinderung von Gewalt an Kindern koordinieren möchte, ist einem verdächtig alten Gedanken verhaftet: Wenn wir uns nicht zu helfen wissen, gründen wir erstmal ein Amt."
Auch wenn die anvisierten Maßnahmen der Politik kritisch gesehen werden: Der mediale Umgang mit dem Fall "Ondra" und die öffentliche Diskussion dürften in Zukunft zu einer vorsichtigeren Handhabung von sensiblen Daten in den Medien führen.