Das zweite Leben tschechischer Torarollen
Man wird kaum einen anderen Gegenstand finden, der für die jüdische Kultur und Religion wichtiger ist, als die Torarolle. Torarollen, die ursprünglich an verschiedenen Orten der heutigen Tschechischen Republik entstanden sind, werden heute jedoch oft weit entfernt von ihrem Entstehungsort benutzt. Wie ist es dazu gekommen? Die Antwort auf diese Frage findet man in einer Ausstellung, die vom Prager Jüdischen Museum initiiert wurde.
Vor dem Zweiten Weltkrieg tauchten Torarollen in den böhmischen und mährischen Museumssammlungen nur sehr selten auf. Denn es sind keine Gegenstände, auf die die zuständige jüdische Kongregation, die sie besitzt, freiwillig und gern verzichten und sie an ein Museum abgeben würde. Die Mitarbeiterin des Prager Jüdischen Museums, Dana Veselska, hatte die jetzige Ausstellung der Torarollen vorbereitet, die unter dem Titel "Das zweite Leben tschechischer Torarollen" vor kurzem in der Robert-Guttmann-Galerie eröffnet wurde. Die Torarolle ist ihren Worten zufolge der wichtigste Gegenstand der jüdischen Religion:
"Sie umfasst fünf Bücher Mose, die auf ein Pergament geschrieben wurden. Sie wurden per Hand von einem dafür ausgebildeten Schreiber - dem Sofer - geschrieben. Die Torarolle steht während eines Synagogengottesdienstes im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Um daraus zu lesen, müssen sich zehn erwachsene Männer versammeln. Es ist nicht möglich, die Torarolle zu jeder Zeit zu benutzen."
Die Torarolle bedeutet der jüdischen Gemeinde sehr viel und die Anzahl der Torarollen, die eine Gemeinde besitzt, zeugt von ihrer ökonomischen sowie gesellschaftlichen Stellung. Im Mai 1942 hat sich die Lage, was die Torarollen in den Sammlungen des Prager Jüdischen Museums betrifft, radikal verändert. Die damalige Protektoratsbehörde, die sich mit der jüdischen Frage befasste - die so genannte "Zentrale für die jüdische Aussiedlung" - ordnete den immer noch existierenden jüdischen Gemeinden auf dem Gebiet des Protektorats an, ihre liturgischen Gegenstände, Bücher und Archivalien, nach Prag zu schicken, wo sie Bestandteil der Sammlungen des eben entstehenden Jüdischen Zentralmuseums werden sollten. Der Impuls zur Errichtung des Museums kam damals von den Mitarbeitern der Prager Jüdischen Gemeinde, die Gegenstände retten wollten, deren Besitzer in KZ-Lager verschleppt wurden. Während des Zweiten Weltkriegs sind somit fast 1.800 Torarollen in Prag zusammengetragen worden.
Nach Kriegsende wurde ein Teil der jüdischen Religionsgemeinden in der damaligen Tschechoslowakei wieder erneuert. Die jüdischen Kongregationen wandten sich mit der Bitte ans Prager Museum, ihnen die notwendige liturgische Ausstattung einschließlich der Torarollen zur Verfügung zu stellen. Eine Reihe der erneuerten Gemeinden hörte nach kurzer Zeit wieder auf zu existieren. Die ausgeliehenen liturgischen Gegenstände wurden in vielen Fällen dem Jüdischen Museum zurückgegeben.
1950 wurde das Prager Museum von den Kommunisten verstaatlicht und es wurden ihm andere Gebäude zugeteilt, von denen die Mehrheit eine Renovierung benötigte. Für die Aufbewahrung der Museumssammlungen wurde ein Gebäude gewählt, das das Museum 1955 bekam - die Synagoge im Stadtteil Michle. Museumsdirektorin Hana Volavkova entschied sich, den Kammerraum des Hauses zu nutzen und dort ein Museum für Torarollen einzurichten. In den Jahren 1956-1959 wurden die Torarollen in die Synagoge gebracht. Das Interesse für die Prager Museumssammlungen war im Ausland schon immer recht groß. Museumsdirektorin Volavkova wies aber erfolgreich Versuche zurück, Gegenstände aus den Sammlungen wegzugeben. Der kommunistische Staat beschloss jedoch 1963 etwa 1.500 Torarollen aus den Museumsammlungen zu verkaufen. Nach der Bezahlung der geforderten Geldsumme, wurden die Torarollen 1964 in Prag eingepackt und nach London geschickt. Dana Veselska dazu:
"Die Torarollen wurden an eine jüdische Institution in Großbritannien - an die Synagoge in Westminster in London verkauft. Das Schicksal der liturgischen Gegenstände wurde vom Londoner Philanthrop Ralph Yablon beeinflusst, der die ganze Geldsumme auf einmal bezahlt hatte. Die Sammlung wurde nicht geteilt, sondern an einem Ort aufbewahrt."
Der tschechoslowakische Staat und der Käufer vereinbarten damals, dass die Torarollen nicht zu kommerziellen Zwecken genutzt werden. Die Torarollen werden vom Londoner "Memorial Scrolls Trust" verwaltet. Und von dort aus werden sie dauerhaft an jüdische Gemeinden verliehen, wo sie ihrem ursprünglichen Zweck dienen können. Mit der Torarolle bekommt die Gemeinde auch ein Zertifikat, durch welches sie erfährt, woher die Torarolle stammt. Die neuen Besitzer versuchen oft, Kontakt zum Entstehungsort des Gegenstands aufzunehmen und sie erinnern an die dortigen Shoah-Opfer.
In der Ausstellung wird einleitend beschrieben, was eine Torarolle ist, und wozu sie genutzt wird. Außerdem wird die Geschichte der Torarollen vor deren Verkauf ins Ausland sowie danach geschildert. Ein bewegtes Schicksal hatten jedoch nicht nur Torarollen, die ins Ausland verkauft wurden, sagt die Kuratorin:
"Eine sehr interessante Geschichte hat eine Torarolle, die von politischen Gefangenen im Jahre 1957 auf dem Dachboden des Gefängnisses in Mirov gefunden wurde. Herr Janku, der den Gegenstand fand, wurde von seinen jüdischen Mitgefangenen aufgeklärt, um was für einen Fund es sich handelt. Da sie im Gefängnis deshalb saßen, weil sie Juden waren, rieten sie dem Herrn, die Torarolle zu verstecken. Er hob sie auf dem Dachboden auf. Als er 1996 nach der Torarolle suchte, war sie nicht mehr auf dem Dachboden, denn das Gebäude wurde inzwischen umgebaut. Er war sehr enttäuscht und dachte, dass die Torarolle endgültig verloren gegangen ist. In Wirklichkeit gelangte die Torarolle durch viele Hände an die Vereinigung ´Respekt a tolerance´ im mährischen Mohelnice. Der Finder hat sie wieder erkannt. Außerdem steht mit Tinte darauf geschrieben ´staatliche Vollzugsanstalt Mirov´. Man kann sehen, dass auch Torarollen, die die Tschechoslowakei nicht verlassen hatten, während der kommunistischen Zeit ein interessantes Schicksal hatten."
Die einst vom tschechoslowakischen Staat verkauften Torarollen findet man der Kuratorin zufolge heute fast auf jedem Kontinent - beispielsweise in Alaska, in Südamerika sowie auf Neuseeland. Gemeinden, denen die Torarollen aus London geliehen wurden, wissen sie zu schätzen und entwickeln viele Projekte, die mit dem Leben der jüdischen Bevölkerung auf dem Gebiet von Böhmen und Mähren zu tun haben. Das Jüdische Museum in Prag beteiligt sich an diesen internationalen Projekten. Die Kuratorin räumt ein, rückblickend sehe sie den Verkauf der Torarollen nicht mehr so negativ, da sie die Chance bekommen hätten, zu ihrem ursprünglichen Zweck genutzt zu werden:
"Die Rolle, die sie heute als Repräsentanten der böhmischen und mährischen jüdischen Gemeinschaft in der Welt spielen, ist unglaublich groß."
Die Ausstellung über das bewegte Schicksal der tschechischen Torarollen wurde im Rahmen des "Jahres mit jüdischer Kultur" vorbereitet. Sie ist in der Robert- Guttmann-Galerie in Prag bis zum 28. Januar 2007 zu sehen.
Falls Sie, verehrte Hörerinnen und Hörer wissen, nach wem die Galerie benannt wurde - also wer Robert Guttmann war - können Sie es uns schreiben, denn so lautet die heutige Quizfrage, für deren richtige Beantwortung Sie ein Buch über Prag gewinnen können. Ihre Zuschriften richten Sie bitte an Radio Prag, Vinohradska 12, PLZ 120 99 Prag 2, Tschechien.
In der vorletzten Ausgabe des Spaziergangs fragten wir Sie nach dem Herrscher, anlässlich dessen Krönung Mozart die Oper La clemenza di Tito geschrieben hat. Es war Leopold II.. Ein Buch geht diesmal an Michael Lüking aus Gifhorn.