Das „zweite“ Leben von Magister Jan Hus (1.Teil)
6. Juli 1415: An diesem Tag ist der tschechische katholische Priester und Kirchenreformator Jan Hus als Ketzer auf dem Scheiterhaufen in Konstanz verbrannt worden. Sein Name und das Datum seines Todestags sind im Gedächtnis der Tschechen festverwurzelt. Bei den Jüngeren vielleicht vor allem deshalb, weil der 6. Juli tschechischer Staatsfeiertag ist. Der zum Tod verurteilte Hus sollte spurlos von der Welt verschwinden, daher wurde die Asche vom Scheiterhaufen in den Rhein gestreut. Doch in Wirklichkeit wurde der Reformator dadurch nicht vergessen gemacht. Im Gegenteil! Seit geraumer Zeit spricht man über das „zweite Leben“ von Jan Hus, das bis in die heutigen Tage andauert.
Über Jan Hus war bei Radio Prag mehrmals und in verschiedenen Zusammenhängen die Rede. Hier trotzdem einige Eckdaten zur Einleitung:
1396 wird Hus Magister der freien Künste an der Prager Karlsuniversität, vier Jahre später wird er zum Priester geweiht und übernimmt dann erst einmal als Rektor die Leitung der Universität. Zwei Jahre später wird er Priester in der Bethlehemskapelle in Prag. In seinen Predigten kritisiert Jan Hus scharf die Zustände in der katholischen Kirche. 1410 wird er deswegen mit einem Kirchenbann belegt und kurz darauf von der Kirche exkommuniziert. Er muss Prag verlassen, findet aber als Wanderprediger viele Anhänger. Im Oktober 1414 folgt Hus dem Aufruf des fünften Konzils, nach Konstanz zu kommen. Dort lehnt er es ab, auf seine Lehre zu verzichten und wird als Ketzer zum Feuertod verurteilt.
Der Märtyrertod von Jan Hus löste bekanntlich große Turbulenzen aus. Etwa 15 Jahre lang rollten die Hussitenkriege über das Land. Dieses Kapitel der tschechischen Geschichte hat sich dann im Laufe der folgenden Jahrhunderte auch in der Wahrnehmung von Jan Hus niedergeschlagen. „Hus“ war einfach ein brenzliges Thema im Verhältnis der tschechischen Gesellschaft zur katholischen Kirche. Bis heute - fast 600 Jahre nach dem Tod von Jan Hus – ist die Wunde nicht ganz verheilt. Das Thema hat der Historiker Jaroslav Šebek am diesjährigen 6. Juli in einer Betrachtung für den Tschechischen Rundfunk angesprochen:„Der Verlauf der Hus-Feierlichkeiten hierzulande war nicht selten voller Emotionen, die vor allem in der Zwischenkriegszeit wiederholt Wellen schlugen. Jene Zeit war wie ein Schmelztiegel, in dem sich neue und traditionelle Sichtweisen auf unsere Geschichte kristallisiert haben. Hinzu kamen aber auch alte Mythen, vor allem die des 19. Jahrhunderts, bei denen geistliche Persönlichkeiten oft als profane Helden und Kämpfer für nationale Angelegenheiten präsentiert wurden.“
Mit anderen Worten, Hus´ Vermächtnis wurde des Öfteren „übertüncht“ - je nach den ideologischen beziehungsweise politischen Zielen. Für viele war es kein Problem, Hus und die Hussitenbewegung sozusagen „maßgeschneidert“ für sich zu interpretieren. Und das floss auch stark in die Fachliteratur ein.So ging es zum Beispiel im politischen Tauziehen zwischen den Alttschechen und Jungtschechen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch um die Frage der Rehabilitierung von Hus. Die Jungtschechen erklärten sich zu den Verfechtern der hussitischen Tradition, auf die sie sich in ihrem Kampf gegen den Adel und die Kirche stützten. 1868 veranstalteten sie sogar einen demonstrativen Marsch von Vertretern des öffentlichen und kulturellen Lebens nach Konstanz. Ein Jahr später lieferte man sich ein scharfes Wortgefecht in der Presse. Die Jungtschechen lehnten paradoxerweise aber die Rufe nach einer Revision de Urteils gegen Hus von 1415 ab. In der Tageszeitung „Národní listy“ (Nationale Blätter) war damals zu lesen.
„Der große von dem Bischofs- und Prälatenkorps verurteilte Reformator ist für die Geschichte der menschlichen Aufklärung viel wichtiger als ein von denselben Hoheiten begnadigter Priester.“Auch die tschechischen Katholiken lehnten eine Revision des Urteils ab, jedoch aus einem anderen Grund. Ihrer Auffassung nach war die Verurteilung von Hus rechtens.
Die Diskussion um Hus hat praktisch die gesamten neuzeitlichen Änderungen in der politischen Landschaft hierzulande begleitet. Im Artikel, der im Juli 1904 in der „Národní listy“ erschien, bezeichnete der anonyme Autor die Hus-Verbrennung als einen Justizmord und als Grund dafür, dass sich die Tschechen bis dahin mit Rom nicht ausgesöhnt hatten. Der Autor verwies dabei auf die Streitigkeiten um Jeane d´Arc und Giacomo Savonarola, die die katholische Kirche zu klären gewusst habe. Auch dieser Artikel war eine Initialzündung für eine neue Polemik um Hus.
Die tschechische Historiografie des 19. Jahrhunderts hat Jan Hus und der auf seiner Lehre fußenden Hussitenbewegung große Bedeutung beigemessen. Der Historiker František Palacký bezeichnete dies sogar als Höhepunkt der tschechischen Geschichte. Dafür erntete er aber Kritik.Auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden allerdings die Gefechte um Jan Hus fortgesetzt, sie waren sogar noch intensiver. Dazu der Historiker Jaroslav Šebek Ende Juni bei einer Pressekonferenz in Prag:
„Die größten Turbulenzen um die Hus-Fragen beginnen mit der Ersten Republik. Hus und im Prinzip alle Tradition der Reformation werden zum Grundpfeiler des neugegründeten Staates erhoben. Damit wird eine Art Kontrapunkt zu den katholischen und konservativen Traditionen gesetzt.“
Auch der erste Staatspräsident der 1918 gegründeten Tschechoslowakei, T. G. Masaryk, setzte sich eindeutig für die Persönlichkeit von Jan Hus sowie die Grundideen seiner Lehre ein. Der Todestag von Jan Hus wurde zum Gedenktag ausgerufen. Der damalige renommierte Historiker Josef Pekař, der sich mit der Auffassung der tschechischen Geschichte von Palacký und Masaryk in vieler Hinsicht nicht identifizieren konnte, schrieb 1918:
„Wenn wir schon einen Jan-Hus-Festtag haben, sollten wir versuchen, diesen durch das Kennenlernen des wirklichen Hus einzuweihen. (…) Ich glaube, das kann insbesondere dazu beitragen, dass der große Feiertag in unserer Geschichte aufhört, zugleich auch ein Kampf - und Ärgertag zu sein.“
Der Aufruf des Historikers wurde allerdings nicht erhört. Am 6. Juli 1925 wurde der Hus-Feiertag sogar zum Auslöser einer Affäre, mit der sich für mehrere Jahre eine tiefe Kluft öffnete zwischen dem tschechoslowakischen Staat und dem päpstlichen Stuhl. Der 510. Todestag von Hus wurde zum Staatsfeiertag erklärt, und an den Feierlichkeiten nahm neben Staatspräsident Masaryk auch die Regierung teil. Das wurde von der katholischen Kirche als eine Provokation empfunden. Der päpstliche Nuntius Francesco Marmaggi verließ aus Protest Prag und brach damit die diplomatischen Beziehungen zwischen der ČSR und dem Vatikan-Staat ab. Erst 1927 einigten sich beide Seiten auf einen „modus vivendi“. Ein Jahr später traf in Prag ein neuer Nuntius ein. Der Streit sei aber nicht nur ein Konflikt zwischen dem modernen Staat und der katholischen Kirche gewesen, glaubt die Historikerin Věra Olivová. In ihrem im Jahr 2000 erschienen Buch „Die Geschichte der Ersten Republik“ schreibt sie:„Durch die Abberufung des Nuntius hat der Vatikan spezielle Ziele verfolgt: erstens die Festigung der eigenen Verhandlungspositionen, zweitens auch die Unterstützung der slowakischen nationalistisch-katholischen Hlinka-Partei innerhalb der Tschechoslowakei.“Jan Hus passte also wieder gut ins Konzept.
Die Kunst, Hus und die Hussiten für eigene Ziele zu benutzen haben insbesondere die Kommunisten nach der Machtübernahme von 1948 zur Vollkommenheit gebracht. In ihrer Darstellung wurden der katholische Kirchenreformator zum Sozialreformer und die Hussiten beinahe zu ihren Vorgängern. Das schlug sich nicht nur in der Geschichtsschreibung und den Lehrplänen an den Schulen nieder. Auch neue historische Romane, Theaterstücke, Werke der bildenden Kunst sowie Filme mussten im - wie es hieß - fortschrittlichen Sinne sein. Im historischen Film „Jan Hus“, den der mittlerweile 100-jährige Otakar Vávra 1954 drehte, stirbt der Hauptprotagonist nicht für seine eigene Wahrheit, sondern als Kämpfer für eine gerechte Gesellschaft.
Zum berühmt-berüchtigten Verfechter der (so genannten) „fortschrittlichen“ Hussitentradition wurde der kommunistische Kulturminister Zdeněk Nejedlý. Auf seinen Wunsch wurde in den 1950er Jahren eine Replik der nicht mehr existierenden Bethlehemskapelle gebaut. Der ursprüngliche Sakralbau war 1786 wegen seines baufälligen Zustandes abgerissen worden. Bei der feierlichen Eröffnung des Neubaus im Jahr 1955 sagte Nejedlý:„Der Öffentlichkeit übergeben wir das neue Denkmal - die Bethlehemskapelle von Jan Hus, die unser Volk nie vergessen hat!“
Jan Hus lebt sein „zweites Leben“ auch nach der politischen Wende von 1989, allerdings unter anderen Vorzeichen. 2015 soll anlässlich seines 600. Todestages erneut eine große Feier stattfinden. Mit den Planungen wurde eine ökumenische Kommission beauftragt, die erst vor kurzem eingesetzt wurde. In diesem Zusammenhang ist erneut davon die Rede, dass Hus rehabilitiert werden sollte.