Dem Judentum das Exotische nehmen: Erste tschechische Rabbinerin erklärt Followern ihre Religion
Kamila Kopřivová hat gerade ihr Studium beendet und ist nun die erste tschechische Rabbinerin. Ihre Lehrjahre hat sie in den sozialen Netzwerken unter dem Titel „Rabinka v zácviku“ (Rabbinerin in Ausbildung) dokumentiert und viele Follower damit gewonnen. Das Interesse am Judentum sei in Tschechien größer als allgemein angenommen, fasst Kopřivová ihre Erfahrungen zusammen. Sie wolle deswegen neben ihrer Funktion als Zweite Rabbinerin in der Westminster-Synagoge in London auch in Tschechien mehr Aufklärung über ihre Religion betreiben.
Anfang des Monats hat Kamila Kopřivová ihr Semicha-Diplom bekommen. Damit ist sie die erste Tschechin, die als Rabbinerin arbeiten darf. Vier Jahre hat sie dafür studiert, und zwar in Berlin, Jerusalem und London. Bei einem Interview in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks erläuterte Kopřivová:
„Das Rabbiner-Studium verläuft im Prinzip wie jedes andere Studium auch. Es findet teilweise an der Universität und teilweise im Rabbiner-Seminar statt. Nach Erfüllung aller Anforderungen und nach dem Studium dessen, was später die Rabbiner-Praxis umfassen wird – also der Lauf und die Lenkung des Lebens in einer Synagoge –, erklären die anderen Rabbiner den Absolventen dafür bereit, selbst ein Rabbiner zu sein.“
Es seien aber nicht nur Fachkenntnisse, die im Studium vermittelt würden, fährt Kopřivová fort. Sie habe auch an ihrer Persönlichkeit arbeiten müssen. Nur so habe sie die nötige Reife erlangen können, die die Arbeit mit den Menschen in der Gemeinde erfordere. Ein solcher Wirkungsort werde jungen Absolventen aber nur in bestimmten Fällen zugewiesen:
„Dies wird unterschiedlich gehandhabt. Einige Nachwuchsrabbiner werden von einer Gemeinde gezielt zum Studium geschickt, damit er danach für sie arbeitet. In meinem Fall war das anders. Ich musste mir wie jeder andere einen Arbeitsplatz suchen – also wie etwa Anwälte, Ärzte oder Journalisten auch.“
Kopřivovás Jobsuche dauerte allerdings nicht lange. Sie nutzte die zufällige Bekanntschaft mit dem Rabbiner der Londoner Westminster-Synagoge, Benjamin Stanley, und sammelte dort noch während des Studiums einige Praxiserfahrungen. Als dann ein Zweiter Rabbiner für die Gemeinde gesucht wurde, habe sie sich einfach beworben, berichtet die junge Tschechin. Und sie wurde angenommen…
„Die Westminster-Synagoge hatte Zeit ihres Bestehens immer nur einen Rabbiner. Dank der Arbeit von Benjamin Stanley hat sich die Gemeinde nun derart erweitert, dass zwei Geistliche nötig sind. Wir empfinden es aber eher als negativ, dass es einen Ersten und einen Zweiten Rabbiner gibt. Darum ist es nicht wirklich hierarchisch gestaltet, wir teilen uns einfach nur die Arbeit.“
Die Gemeinde habe knapp 1000 Mitglieder, informiert Kopřivová und berichtet von ihren Aufgaben:
„Natürlich veranstalten wir regelmäßige Gottesdienste und alle Zeremonien, die mit dem jüdischen Leben verbunden sind, wie etwa Bar oder Bat Mizwa sowie Hochzeiten. Es geht zudem um ganz alltägliche Bedürfnisse. Dazu gehört die Versorgung von Kranken oder der Unterricht für Mitglieder aller Altersgruppen. Daneben wollen wir aber über unsere Gemeinde hinaus wirken und nicht in uns geschlossen bleiben. So helfen wir zum Beispiel bei karitativen Vereinen mit. Wir wollen also wirklich leben, was wir predigen – das heißt, einen positiven Einfluss haben auf das Leben um uns herum.“
Konvertierte Jüdin un Feministin
Kamila Kopřivovás Berufswahl ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Zum einen ist sie eine von bisher nur sehr wenigen Frauen, die das Rabbineramt ausüben. Zum anderen stammt sie gar nicht aus einer jüdischen Familie, sondern ist zu der Religion konvertiert. In ihrem Umfeld rufe dies aber wenig Erstaunen hervor, sagt die Geistliche:
„Am meisten verwundert sind Außenstehende. In der Gemeinde oder im Rabbiner-Seminar bin ich nicht auf Überraschung gestoßen. Denn dort gibt es eine Menge solcher Fälle, und es ist nicht unbedingt etwas Besonderes. Ungewöhnlich ist es eher für Menschen, die nicht viel Kontakt zum Judentum haben.“
Sie empfinde sich selbst als Feministin, sagt Kopřivová und fährt fort:
„Ich würde sagen, dass das Bemühen um Gleichberechtigung und um die Gleichstellung von Frauen und Männern eine der stärksten Bewegungskräfte ist, die im Judentum der letzten 50 Jahre wirkt. Heute dürfte es keine Gemeinde mehr geben, die davon nicht beeinflusst ist oder sich damit nicht beschäftigen muss.“
Dazu gehöre, dass es in den Synagogen sowohl progressiver als auch konservativer Gemeinden schon längst keine räumliche Trennung von Männern und Frauen mehr gebe, schildert die Rabbinerin. Sie selbst zähle sich zum progressiven Judentum, bei dem die Werte eine höhere Bedeutung hätten als traditionelle Religionspraktiken:
„Diese Werte beziehen sich auf das Gemeindeleben. Dabei wird großes Gewicht auf ein moralisches Leben gelegt sowie auf den Versuch, die Welt und die menschlichen Beziehungen zu verbessern. Es geht um ein Leben in Harmonie, sowohl mit der Natur als auch mit den Menschen. Dies ist im progressiven Judentum also wichtiger als die Einhaltung der traditionellen Praktiken. Allerdings erlebt dieser Flügel seit etwa 100 Jahren einige Veränderungen, durch die langsam zu den jüdischen Religionspraktiken und der aktiven Ausübung des Judentums zurückgekehrt wird.“
Strenger werden Rituale und Traditionen vor allem aber im orthodoxen und ultraorthodoxen Judentum gehandhabt. In den zugehörigen Synagogen werden Männer und Frauen nach wie vor auch getrennt platziert. Es gebe allerdings auch schon Rabbinerinnen in orthodoxen Gemeinden, wirft Kopřivová ein. Nur dürften diese nicht die gleichen repräsentativen Aufgaben übernehmen wie ihre männlichen Kollegen.
Mit Blick auf ihr Heimatland äußert Kamila Kopřivová:
„Ich würde sagen, die tschechische jüdische Gemeinde ist in der Mehrheit orthodox. Dies ist aber vielleicht eine Dissoziation. Viele würden sich auf dem Papier wohl als orthodox bezeichnen. Aber ein Blick in die einzelnen Familien würde ergeben, dass ihr Alltag wohl eher dem progressiven Judentum näher kommt. Das jüdische Leben in Tschechien ist unglaublich bunt und vielseitig – so wie überall anders auch. Dies sind seine beste Visitenkarte und seine Stärke.“
Wachsender Antisemitismus in Europa macht Sorge
Die Stories der „Rabbinerin in Ausbildung“ in den sozialen Netzwerken haben allerdings nicht nur Angehörige der jüdischen Gemeinde in Tschechien verfolgt. Im Gegenteil, ihre Follower seien zum Großteil Menschen, die in gewisser Weise vom Judentum fasziniert seien, so Kopřivová:
„Dieser Erfolg zeigt, dass das Judentum die Menschen in Tschechien wirklich sehr interessiert. Es ist etwas, worüber sie nicht genug wissen und mehr erfahren wollen. Das Interesse ist durchaus größer, als wir glauben. Es bleibt aber wirklich nur ein Interesse – also der Wunsch, etwas über das Judentum zu erfahren, welches hierzulande eher als etwas Exotisches angesehen wird. Dieses Interesse bedeutet nicht, dass die Menschen dies auch praktizieren wollen und selbst gläubig wären. Sondern es geht um etwas, was es in Tschechien kaum gibt und eine Mangelware ist.“
Immerhin sei aber Religion an sich für diese Leute nun kein Tabuthema mehr, sondern Gegenstand für Diskussionen, fügt Kopřivová hinzu. Dennoch verfüge der Durchschnitts-Tscheche ihrem Empfinden nach sowohl hinsichtlich des Judentums als auch des Christentums nur über ein geringes Wissen. Darum wolle sie weiter öffentlich über ihre Religion reden und sie erklären, sagt die Rabbinerin:
„Dies ist auf jeden Fall eine der wichtigsten Aufgaben. Wir Juden möchten nicht als etwas Eigenartiges oder Außergewöhnliches angesehen werden. Wir führen ein normales Leben. Und das manche auf uns als etwas eher Exotisches blicken, könnte eine Menge Leute auch beleidigen. Darum ist es für mich wichtig zu erklären, dass der jüdische Glaube etwas ganz Normales ist. Und man muss ihn auch nicht unbedingt als etwas Ultra-Interessantes betrachten.“
Zumal das Interesse, das die Profile der „Rabbinerin in Ausbildung“ wecken, nicht immer nur ein zugewandtes ist. Das Internet sei eben auch jener Ort, an dem sie Vorurteile und Ablehnung erfahre, räumt Kopřivová ein. Manche Kommentare grenzten an Antisemitismus, und oft seien diese grob und sehr traurig. In persönlichen Begegnungen habe sie das allerdings noch nicht erlebt, berichtet die junge Frau und ergänzt mit Blick auf die politische Debatte:
„Es ist kein Geheimnis, dass der Antisemitismus in Europa stärker wird. Das macht mir natürlich Sorgen. Deswegen müssen wir miteinander darüber reden und immer wieder betonen, dass solch ein Verhalten nicht in Ordnung ist. Wir müssen den öffentlichen Raum vor Antisemitismus schützen und definieren, welche Aussagen zulässig sind und welche nicht.“
Verbunden
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