Der Fall Vranská: Prager Prostituiertenmord von 1933 „zu 80 Prozent“ aufgeklärt
Die tschechoslowakische Öffentlichkeit gruselte sich 1933 über einen grausamen Mord. Anfang September des Jahres wurden in zwei Koffern an zwei unterschiedlichen Orten die Überreste einer jungen Frau gefunden, die als Prostituierte bezeichnet wurde. Doch die Justiz kam einfach nicht auf die Spur des Mörders. Nun aber, 90 Jahre später, scheinen Polizeihistoriker eine Antwort gefunden zu haben.
2. September 1933: In slowakischen Städten werden in Zugwaggons zwei Reisekoffer gefunden. In dem in Košice liegt der Torso einer Frau, eingewickelt in ein Betttuch und Zeitungspapier. Im Koffer in Bratislava befinden sich ein Kopf und zwei Beine. Kurze Zeit später weiß die Polizei mehr: Die Körperteile gehören derselben Frau. Diese wurde in Prag ermordet, dann zerstückelt, und die Koffer mit den Leichenteilen stellte jemand in den Abteilen zweier unterschiedlicher Züge ab. Am 6. September ist die Identität des Opfers geklärt. Es handelt sich um die 22-jährige Otýlie Vranská. Sie wird als slowakische Prostituierte aus Prag bezeichnet.
Radek Galaš leitet das tschechische Polizeimuseum. Er und sein Team haben den Fall nun noch einmal untersucht. Wie Galaš sagt, wurden die Ermittlungen im Jahr 1933 von der vierten Sicherheitsabteilung unter dem Polizeirat Vaňásek geleitet, der als Legende galt:
„Zunächst hatte der Fall allerdings noch gar nichts so Besonderes. Einfach eine unbekannte Leiche, die eben zerteilt war und deren Überreste irgendwohin geschickt worden waren. Und diese Art der Beseitigung eines Mordopfers war nicht ungewöhnlich.“
So habe es ein Jahr zuvor in Bratislava bereits einen ähnlichen Fall gegeben, schildert Galaš. Dennoch wurde der Mord an der Prostituierten Vranská zu einem Gesprächsthema im ganzen Land…
„Der Fall wurde bald allein deswegen zu einem Phänomen, weil der Täter nicht gefunden werden konnte. Die Zeitungen machten daraus eine absolute Sensation. Noch im September 1933 erschienen in zwei Tageszeitungen, die wir gesichtet haben, über 50 Beiträge zu dem Fall. Bis Ende des Jahres wurden mehrere Hundert Artikel veröffentlicht, von denen einige sensationsheischend waren. Und das machte die Menschen neugierig. Daher begannen sich Gerüchte und wilde Theorien zu verbreiten. Großen Anteil daran hatten Journalisten, die die unglaublichsten Dinge über den Fall geschrieben“, sagt der Polizeihistoriker.
1943 wurden die Ermittlungen jedoch eingestellt. Zum einen war Polizeirat Vaňásek bereits 1938 gestorben. Zum anderen wollte sich mitten im Krieg niemand mehr systematisch mit dem Mord beschäftigen. Auch später nahm die tschechoslowakische Polizei den Fall nicht mehr auf, obwohl laut Radek Galaš selbst 1965 noch immer in anonymen Briefen der eine oder andere der Tat beschuldigt wurde.
Alle Spuren führen zu Feldwebel Pěkný
Erst 80 Jahre nach dem Mord entschlossen sich die Polizeihistoriker in Prag, die Akten von damals wieder zu öffnen und neu zu untersuchen. Und weitere zehn Jahre später können sie ein Ergebnis präsentieren. Der Museumsleiter:
„Die Spuren haben uns zu einer einzigen Person geführt, bei der aus unserer Sicht die Beweise zu 80 Prozent relevant sind. Wir sagen, dass wir den Kreis indirekter Beweise geschlossen haben. Wir haben aber keinen einzigen direkten Beweis. Das ist auch nicht möglich, weil niemand der Beteiligten an dem Fall noch lebt und man sich nicht auf die Erzählungen Dritter verlassen kann. Wir haben uns also auf das Aktenmaterial gestützt, auf die Erkenntnisse von damals und auf unsere eigene Analyse der Beweismittel sowie auf unseren Menschenverstand und unsere praktischen Erfahrungen als Polizisten.“
Derjenige, der zu 80 Prozent als Mörder von Otýlie Vranská identifiziert werden konnte, ist der Feldwebel Josef Pěkný. Er war in der Kaserne im Prager Stadtteil Karlín stationiert und hatte im Ersten Weltkrieg den tschechoslowakischen Legionen angehört. Dabei war er zu Ehren gekommen und ausgezeichnet worden. Er genoss also einen gewissen sozialen Status, obwohl er geschieden war und ein Kind hatte. Da er häufiger zu Prostituierten ging, kam er auch in Kontakt mit Otýlie Vranská. Beide standen in einer sexuellen Beziehung zueinander. Und weiter Galaš:
„Sie hat diese Beziehung auch nicht verheimlicht. Zudem sagte eine Reihe Zeugen aus, dass Otýlie Vranská mit einem Feldwebel liiert war, der eine Handvoll Auszeichnungen, einen goldenen Zahn und weitere solche Dinge hatte. Pěkný wurde also genau identifiziert. Und es konnte nachgewiesen werden, dass er sich mit dem Opfer auch am letzten Abend vor ihrem Tod getroffen hat. Der Feldwebel hat dies letztlich auch nicht geleugnet.“
Otýlie Vranská war im März 1933 aus der slowakischen Provinz nach Prag gekommen. Laut Galaš dürfte sie wohl eher keine professionelle Prostituierte gewesen sein. In der Großstadt habe sie die Verlockungen des Nachtlebens kennengelernt, doch bei der Sittenpolizei habe sie keinen Eintrag gehabt, sagt der Polizeihistoriker.
„Ihre Freundinnen waren hingegen polizeibekannt. Sie hat laut den Zeugenaussagen höchstens mit der Prostitution kokettiert. Belegt ist, dass sie Kundschaft hatte. Aber sie wollte für ihre sexuellen Dienste kein Geld, sondern hier und da ein Dach über dem Kopf oder ein Frühstück. Ansonsten haben ihr aber die Kontakte wohl einfach Spaß gemacht, sie gaben ihr ein Gefühl von Freiheit. Otýlie Vranská genoss die Abenteuer einer Großstadt. Aber darin lag auch eine große Naivität“, so Galaš.
Vranská könnte auf der Suche nach einem gut situierten Mann gewesen sein, glaubt Radek Galaš. Und sie war wohl von Pěkný fasziniert, obwohl er deutlich älter war. Dabei gab es Konfliktpotenzial in der Beziehung. Denn der Feldwebel muss den Zeugenaussagen nach mehrfach seiner jungen Bekanntschaft versprochen haben, dass er sie bei sich in der Wohnung aufnehmen und vielleicht auch heiraten werde. In ihrer Naivität habe Otýlie Vranská die Versprechen anscheinend ernst genommen, so Galaš.
Und genau darin liegt laut dem Polizeihistoriker das Motiv des Mordes begründet. Denn wäre seine Beziehung zu einer Prostituierten bekannt geworden, hätte dies die militärische Karriere des Feldwebels ruiniert. Außerdem konnte ein Heiratsversprechen eingeklagt werden. Dieses nicht einzulösen, war strafbar. Josef Pěkný musste also befürchten, dass er erpresst oder zur Hochzeit gezwungen wird.
Schicksalhafter Abend in Prager Innenstadt
Am Abend des 31. August 1933 trifft sich Otýlie Vranská mit Josef Pěkný und dessen neuer Partnerin Antonie Koklesová in der Passage Koruna in der Prager Innenstadt. Die Zeugen berichten später, dass es Streit zwischen den dreien gibt. Dennoch gehen sie gemeinsam essen. Gegen 23 Uhr trennt man sich, Pěkný und Koklesová kehren zu ihm nach Hause zurück, Vranská zieht noch bis ein Uhr morgens weiter durch die Bars und Cafés. Danach verliert sich ihre Spur.
Polizeihistoriker Galaš vermutet aber, dass die junge Frau zur Wohnung des Feldwebels gegangen sein muss, weil sie nach Mitternacht nicht mehr in ihre Unterkunft zurückkehren durfte. Und dort geschah wohl der Mord. Die Wohnung von Josef Pěkný wurde jedoch nie durchsucht. Denn den Feldwebel strich man damals recht schnell von der Liste der Verdächtigen. Und genau hier sieht Radek Galaš den ersten schweren Fehler in den damaligen Ermittlungen. Richtig sei gewesen, Pěkný und seine neue Partnerin getrennt zu verhören, aber nicht, wie nachher mit den Vernehmungsprotokollen umgegangen worden sei. Denn am nächsten Tag änderte der Feldwebel seine Aussage.
„Natürlich ist auch das Protokoll der ersten Vernehmung des Feldwebels in den Polizeiakten archiviert worden. In seiner Aussage beruft sich Josef Pěkný auf eine Person, die ihm ein Alibi geben kann. Dann liest man das Vernehmungsprotokoll von Antonie Koklesová, die ihm angeblich das Alibi geben kann, und stellt fest, dass sich die Aussagen in grundlegenden Dingen widersprechen. Pěkný aber scheint sich später der Widersprüche bewusst geworden zu sein, denn am nächsten Tag wurde er freiwillig bei der Polizei vorstellig, die ihn zuvor lange gesucht hat, und er änderte seine Aussage komplett. Da schrillen bei einem Polizisten doch die Alarmglocken“, betont Galaš.
Der zweite schwere Fehler der damaligen Ermittler bezieht sich auf die Ergebnisse der Obduktion. Diese haben ergeben, dass Otýlie Vranská wohl zunächst durch zwei Schläge auf den Kopf mit einem Fleischerbeil das Bewusstsein verlor. Danach wurde ihr mit einem tiefen Schnitt von hinten der Hals aufgeschlitzt. Todesursache war dann der Blutverlust durch diese Wunde. Anhand des Mageninhalts konnte auch der Zeitpunkt ihres Ablebens eingegrenzt werden – und zwar auf ein bis drei Uhr morgens am 1. September 1933.
Falsch interpretiert wurde jedoch, auf welche Weise die junge Frau zerstückelt wurde. So hielt sich die Annahme, dass nur jemand mit anatomischen Kenntnissen, also etwa ein Arzt oder ein Medizinstudent, dazu in der Lage gewesen sein muss. Radek Galaš erläutert:
„Diese Theorie brachte ein gewisser Professor Hájek in Umlauf, und zwar am Tag der Autopsie, dem 5. September 1933. Er sagte, die Beine seien mit einem einzigen mächtigen Schnitt abgetrennt worden und der Kopf mit zwei heftigen Schnitten. Wenn man aber das spätere Obduktionsprotokoll liest, dann steht da etwas anderes. Demnach wurde der Kopf nicht mit zwei, sondern mindestens mit vier Schnitten abgetrennt. Und die Person, die dies gemacht habe, dürfte keine anatomischen Kenntnisse gehabt haben. Dennoch hielt sich über Jahrzehnte die These, dass ein Experte die Leiche zerlegt haben müsse. Dabei widerspricht das Obduktionsprotokoll, das auch noch gerade von Professor Hájek unterschrieben wurde, komplett dieser These.“
Auch diese Annahme war ein Grund, warum Pěkný nicht mehr als verdächtig galt. Jetzt ist aber klar, dass dies ein Fehler war und genau er den grausamen Mord begangen haben dürfte. Zudem dürfte mit großer Sicherheit seine Partnerin Antonie Koklesová zugegen gewesen sein. Da aber für die tödlichen Wunden viel Kraft notwendig gewesen sein müsse, schließt Polizeihistoriker Galaš sie als Haupttäterin aus. Koklesovás Rolle bleibt indes im Unklaren:
„Ob sie gezwungen wurde, an dem Mord mitzumachen, nur Zeugin oder aktiv beteiligt war, das werden wir niemals erfahren.“
Und das seien gerade die 20 Prozent Unsicherheit, die noch bestünden, so Radek Galaš. Dennoch hält er nun den Fall für abgeschlossen – mit 90-jähriger Verspätung.