„Der Totalitarismus in Europa“: Ausstellung dokumentiert nationalsozialistische und kommunistische Verbrechen
„Der Totalitarismus in Europa“ ist eine Ausstellung, die zurzeit an der Prager Karlsuniversität zu sehen ist. Vorbereitet wurde sie vom tschechischen Institut für das Studium totalitärer Regimes und ähnlichen Forschungsstellen aus anderen europäischen Ländern. Sie arbeiten im Rahmen der „Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas“ zusammen. Radio Prag hat anlässlich der Vernissage mit dem Direktor des Instituts Daniel Herman und der Koordinatorin der internationalen Ausstellung Neela Winkelmannová gesprochen. Einen Zusammenschnitt hören sie nun in einer weiteren Ausgabe der Sendereihe Kapitel aus der tschechischen Geschichte.
Daniel Herman: „Diese Ausstellung zeigt beide Totalitarismen in Europa im 20. Jahrhundert, das heißt die nationalsozialistische beziehungsweise faschistische Epoche und die kommunistische. Ich finde diese Konfrontation sehr wichtig, vor allem weil den Menschen im früher freien Teil Europas nicht so gut bekannt ist, wie die Situation jenseits des Eisernen Vorhangs war. In diesem Zusammenhang finde ich diese Ausstellung sehr wichtig, denn im östlichen Teil Europas, hinter dem Eisernen Vorhang gab es zwei totalitäre Regime, und zwar der Nazismus während des Zweiten Weltkriegs und der Kommunismus danach. Das ist wichtig zu wissen und zu entdecken.“
Neela Winkelmannová: „Die Ausstellung heißt 'Totalitarismus in Europa' und zeigt, was der Totalitarismus bewirkt hat, und zwar mit Blick auf die menschlichen Opfer. Und zwar der Totalitarismus in zwölf heutigen EU-Mitgliedsstaaten. Das ist aber keineswegs eine geschlossene Zahl, denn wir wollen die Ausstellung noch erweitern. Im Prinzip geht es darum, für jedes Land, das vom Totalitarismus im 20. Jahrhundert heimgesucht wurde, einmal die Opferzahlen des Nationalsozialismus oder Faschismus zu zeigen, und andererseits auch die Opferzahlen des Kommunismus. Es ist nämlich so, dass alle Partner dieser Ausstellung davon ausgehen, dass viel zu wenig Aufklärungsarbeit über das geschieht, was hier hinter dem Eisernen Vorhang im Kommunismus passiert ist. Wir wollen mittels dieser Ausstellung endlich mal die Zahlen aufs Papier legen und zeigen, was der aktuelle Wissensstand auf diesem Gebiet ist. Es ist eigentlich eine Schande einzugestehen, dass wir praktisch ein Vierteljahrhundert nach dem Fall des kommunistischen Regimes vielerorts die Zahlen noch nicht erarbeitet haben.“Widmen wir uns doch ein bisschen näher der Tschechoslowakei. Wie sehen die Zahlen für dieses Land aus?DH: „Also die Kommunisten haben ungefähr 8.000 Menschen direkt ermordet. Ungefähr eine Viertelmillion Menschen waren im Gefängnis, natürlich gegen alle juristischen Prinzipien, denn es war alles konstruiert. Über 20.000 Personen wurden ohne Gerichtsverfahren in Arbeitslager geschickt. Ebenso waren 20.000 Menschen in den so genannten PTP-Einheiten. Sie wurden ‚Schwarze Barone’ genannt, es waren Arbeitseinheiten im Rahmen des Militärs. Jeder von ihnen hatte einen Partner oder ein Kind, eine Mutter und einen Vater, also Familie, und das bedeutet, dass – nach meiner Ansicht und meiner Schätzung – insgesamt drei Millionen Menschen vom Regime betroffen waren.“
NW: „Ich will noch mal klar stellen, es sind Zahlen der schwersten Verbrechen des Regimes. Das heißt, es handelt sich um Massentötungen, Deportationen, um Hinrichtungen, Verhaftungen und Gefängnisstrafen aus politischen Gründen. Es gibt Tötungen während diverser Aufstände und Invasionen, sowohl in der DDR als auch bei uns. Und es gibt hier auch Statistiken über die strafrechtliche Verfolgung der Täter nach dem Ende des Regimes. Sowohl im Nazi-Regime als auch im kommunistischen Regime.“Wie steht in dieser Hinsicht die Tschechische Republik dar?
NW: „Kurz gesagt schlecht. Wir haben viel zu wenig für die Wiederherstellung der Gerechtigkeit nach dem Fall des Kommunismus getan. Es sind sehr, sehr wenige Täter wirklich vor Gericht gestellt worden, es sind viel zu wenige verurteilt und viel zu viele zu Bewährung verurteilt worden. Also angesichts des immensen Leids, das der Bevölkerung hier in den vierzig Jahren zugefügt wurde, ist das wirklich eine lächerliche Zahl.“DH: „Es gab keine Gerichtsverhandlungen wie gegen die Nazis nach dem Zweiten Weltkrieg. Natürlich ist die Aufarbeitung ein andauernder Prozess, und auch diese Ausstellung dient als ein Steinchen im Mosaik in diesem Prozess. Meiner Meinung nach ist es ein Generationenprozess, diese Purifikation des nationalen Gedächtnisses, die seine Zeit braucht. Es ist schwer zu sagen, aber ich glaube, es ist ein Prozess für mehr als nur eine Generation. Ich schätze, wir sind irgendwo in der Mitte. Aber das ist kein Sonderfall. Auch in Deutschland hat die Entnazifizierung ungefähr 20 Jahre gebraucht. Es ist kein Optimum bei uns, aber auf der anderen Seite befinden wir uns in keiner wesentlich anderen Situation als andere Länder. Wie gesagt, es ist ein Prozess und leider dauert er und braucht Zeit.“
NW: „Wir können zum Beispiel von den polnischen Kollegen lernen. Die haben ihre Hausaufgaben etwas besser gemacht. Auch in Deutschland ist nach der Wiedervereinigung besser gearbeitet worden, es sind mehr Straftäter verurteilt worden. Allerdings auch dort viel zu wenig.“Wie würden Sie eigentlich den Totalitarismus charakterisieren oder definieren?
NW: „Das ist sehr einfach. Der Totalitarismus kommt vom total. Und total bedeutet, dass eine Partei oder eine Gruppe die totale Macht im Staat hat. Sie beherrscht alles: Sie hat die gesamte politische Gewalt, sie beherrscht die Medien, sie beherrscht die gesamte Wirtschaft, sie beherrscht praktisch alle Sphären des menschlichen Handeln, von der Politik bis zur Freizeit. Alles wird von einer Gruppe kontrolliert. Und es ist wirklich wichtig zu wissen, dass dieser Totalitarismus bis zum Fall des Regimes 1989/90 angedauert hat. Es gibt da Meinungen, dass in den 1980ern alles eigentlich ganz locker gewesen sei, man hätte sich ein neues Auto kaufen können, man hätte eine Wohnung gehabt, man hätte Arbeit gehabt. Aber man muss das wirklich durch die Brille der Menschenrechte, der Grundrechte des Menschen betrachten. Wir hatten hier überhaupt keine Grundrechte, wir hatten keine Meinungsfreiheit, keine Versammlungsfreiheit, keine Freiheit der religiösen Ausübung, wir durften nicht frei wählen, wir durften uns auch nicht zur Wahl stellen. Also alles, was in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 verankert ist, die ganzen dreißig Artikel, wurden tagtäglich systematisch durch die kommunistischen Machthaber in ganz Mittel- und Osteuropa verneint. Das ist wirklich ganz wichtig, dass man das klar definiert: Der Totalitarismus hat wirklich bis 1989 gedauert.“Der Dekan der juristischen Fakultät hat anlässlich der Eröffnung der Ausstellung auch über die Ursachen gesprochen. Warum haben sich die totalitären Regime in Europa durchgesetzt? Was sehen sie als die Ursachen und Wurzeln?NW: „Die Tschechen haben es leicht. Der erste Totalitarismus war der Nationalsozialismus. Wir sind praktisch okkupiert worden. Es waren die – aber jetzt bitte wirklich in Anführungszeichen – 'bösen Deutschen', es war der Zweite Weltkrieg, der den Weg für den Kommunismus geebnet hat. Das ist auch das, was die Ausstellung direkt und indirekt zeigt. Der eine Totalitarismus hat dem anderen den Weg geebnet. Der Verlauf des Zweiten Weltkriegs hat dazu geführt, dass Stalin die Oberhand gewonnen hat und nach dem Zweiten Weltkrieg sein Imperium weiter ausgebaut hat, während Hitler gescheitert war.“
DH: „Meiner Ansicht nach ist der Erste Weltkrieg die Ursache. Es folgt dann der bolschewistische Putsch in Russland 1917, der Aufbruch des Kommunismus in Russland, in der Mongolei, und dann seine Expansion nach Europa. In den 1930er Jahren der Nationalismus und Nationalsozialismus in Deutschland, der Zweite Weltkrieg. Sicherlich gibt es hier eine große Kontinuität: Ohne den Ersten Weltkrieg – glaube ich – würde die Welt ganz anders aussehen.“NW: „Die Wurzeln des Totalitarismus? Aus heutiger Sicht gesehen, wenn man die Situation in der Weimarer Republik betrachtet, denke ich, es war eine Schwäche der demokratischen Eliten. In einer Zeit der wirtschaftlichen Krise oder einer andauernden sozialen Krise ist das ein Versagen der demokratischen Eliten, die sich nicht entscheidend genug oder mutig genug gegen nichtdemokratische Tendenzen gestellt haben. Ich glaube, das kann man im Allgemeinen sagen. Und insofern ist die Ausstellung auch heutzutage noch relevant, in der angespannten wirtschaftlichen Lage in Europa. Wir haben zwar jetzt nicht unbedingt eine Krise wie damals Ende der 1920er und in den 1930er Jahren, aber es ist feststellbar, das sofort Randgruppierungen in der Gesellschaft stärker, Extremisten sofort lauter und sichtbarer werden und auch mehr Zulauf kriegen. Es ist genau die Situation, in der die demokratischen Eliten und Strukturen gefragt und gefordert sind, sie müssen sich lauter zur Wehr setzen und einfach dafür sorgen, dass diese extremen Gruppen oder Links- und Rechtsextremisten nicht die Oberhand gewinnen.“
Die Ausstellung ist bis 8. März im Gebäude der juristischen Fakultät in Prag zu sehen. Ihre weitere Tour durch Europa ist geplant.
Fotos: Archiv des Instituts für das Studium totalitärer Regimes