Der Übersetzer Eckhard Thiele: Man ist ewig geistig unterwegs

Eckhard Thiele
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Die erste Begegnung mit ihr geschah aus einem traurigen Anlass, jedoch wurde sie ihm zum Lebensinhalt und hat ihn immer begleitet - die tschechische Literatur. Und dem Essayisten, Übersetzter und Mitherausgeber der "Tschechischen Bibliothek" Eckhard Thiele begegnen wir jetzt persönlich. Für sein Engagement wurde er im Juni 2005 vom tschechischen Außenministerium mit dem Gratias-Agit-Preis für Verdienste um die tschechische Kultur ausgezeichnet. Bára Procházková hat ihn in Berlin besucht und mit ihm über sein Leben gesprochen:

Der Weg zum Übersetzer aus der tschechischen Sprache war für Eckhard Thiele, der 1944 in Garlipp in der Altmark geboren wurde, zwar gradlinig aber nicht geplant. Im Jahre 1957 erkrankte er an Kinderlähmung, und weil es in Ostdeutschland keine Behandlungsmöglichkeiten gab, wurde er zwei Jahre später in das tschechische Staatsbad Janske Lazne geschickt. Und das war auch seine erste Begegnung mit der tschechischen Sprache:

"Und so bin ich 1959, ich war damals gerade noch 14 Jahre alt, nach Janske Lazne gekommen. Ich konnte zwar kein Wort Tschechisch, hatte aber einen festen Willen, die Sprache zu lernen. Ich hatte mir vorher ein Wörterbuch und ein Lehrbuch der tschechischen Sprache von meinen Eltern kaufen lassen und die hatte ich mitgenommen. Denn ich fand es interessant und habe gleich mit dem Lernen begonnen, was mir natürlich viele Sympathien eingebracht hat."

Der junge Eckhard Thiele hat schnell gelernt und konnte sich bald nicht nur verständigen sondern sogar Bücher auf Tschechisch lesen. Nach den ersten Abenteuergeschichten von Karl May hatte er schon Bücher von Karel Capek oder Jaroslav Hasek in der Hand. Sogar Goethes Faust hat er zuerst auf Tschechisch gelesen. Nach insgesamt drei Aufenthalten in der Gesamtlänge von zweieinhalb Jahren hat er ein besonderes Verhältnis zu Tschechisch und zu Tschechien aufgebaut:

"Da ich sehr gerne dort war, dort viele Freunde gewonnen habe und mich unter den Menschen sehr wohl gefühlt habe, ist also eine innige Beziehung entstanden. Diese spontane Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft hat mir im Leben sehr geholfen und mir Mut gegeben: Das Leben wird nicht leicht sein aber Du wirst es schaffen. Diese Überzeugung habe ich dort gewonnen."

Der Studiersaal in Klementinum,  Prag
Eckhard Thiele war ans Krankenbett gefesselt und wurde in der Zeit des allgemeinen Reiseverbots als ein deutscher Junge in ein fremdes Land geschickt, welches einige Jahre zuvor Deutsche verlassen mussten. Die anfänglichen Berührungsängste haben sich aber sehr schnell zerstreut, die Geschichte hat er durch Erzählungen von Menschenschicksalen kennen gelernt:

"Ein junger Therapeut, der damals ungefähr 30 Jahre alt war, hat mir über seine Jugend erzählt und dann hat er also über das Protektorat erzählt. Er hat mir nahe gebracht, wie es ausgesehen hat. So habe ich alles erfahren. Oder eine jüdische Krankengymnastin, die dort gearbeitet hat, hat mir ihre jüdische Geschichte erzählt. Das alles aus erster Hand zu erfahren war so erschütternd und gleichzeitig beeindruckend. Diese Erlebnisse haben mich sehr geprägt."

Die Gespräche mit den Menschen vor Ort waren für Eckhard Thiele die wichtigsten Momente. Er wollte einen Anteil an deren Lebensgeschichte haben, so hat er einen Zugang zu der Kultur gewonnen. Er bekam auch Unterricht, regelmäßig besuchte ihn ein Lehrer in der Klinik. Am Anfang haben sie sich auf Deutsch unterhalten, später sind sie ins Tschechische übergegangen:

"Wir haben uns über Gott und die Welt unterhalten. Sie müssen sich das so vorstellen, dass ein 15-Jähriger Junge sich mit einem Mann von 36 Jahren über alles unterhält. Wir haben uns so herrlich unterhalten, das hat mich weit gebracht. Ich habe damals viel über die Geschichte, über die Geografie, über die Literatur aber auch über den Alltag erfahren. Und ich konnte ihn alles fragen."

Nach der Rückkehr aus der Tschechoslowakei hat Eckhard Thiele später ein externes Studium des Dolmetschens und Übersetzens in Leipzig aufgenommen, promovieren durfte er jedoch nicht. Da aufgrund der allgemeinen politischen und seiner gesundheitlichen Situation persönliche Kontakte nicht möglich waren, hat er als freier Übersetzer aus dem Tschechischen und aus dem Russischen zuerst für ostdeutsche später auch für westdeutsche Verlage gearbeitet. Geistig konnte er also immer im tschechischen Milieu bleiben. Auch in den 60er Jahren haben ihn die intellektuellen Impulse aus der Tschechoslowakei sehr beeinflusst. Damals hat er die Namen Josef Skvorecky und Ludvik Vaculik kennen gelernt. Diese haben ihn auch weiterhin begleitet:

"Im Jahr 1967 war ja der berühmte Schriftstellerkongress mit diesen wunderbaren Reden von den Schriftstellern Vaculik, Skvorecky und Kundera und anderer. Das war großartig, das war eine große Aufregung. Dazu kam das Jahr 1968, da habe ich die Ereignisse regelmäßig verfolgt. Jeden Tag habe ich mehrere Stunden Nachrichten gehört, Zeitungen sowie Zeitschriften wie `Plamen` und `Host do domu` gelesen. Natürlich habe ich auch viele tschechische Bücher gelesen."

Nach der politischen Wende hat Eckhard Thiele auf die Anfrage von Professor Hans Dieter Zimmermann eine Vortragsreihe über die DDR-Literatur an der Technischen Universität Berlin abgehalten. Eines Tages schlug Professor Zimmermann Eckhard Thiele vor, zu promovieren. Das Thema - Literatur nach Stalins Tod und Vergleich von Sowjetliteratur und DDR-Literatur:

"Das war natürlich für mich eine sehr angenehme Überraschung, denn als ich das ganze 1966 damals noch in Leipzig angestrebt hatte, dann war es nicht möglich, man hat es mir aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen verwehrt. Wahrscheinlich stimmte das Kaderprofil nicht oder ich war zu bürgerlich. Jedenfalls hätte ich gerne promoviert aber ich der DDR konnte ich es nicht. Nun war die Grenze offen und man konnte publizieren und lesen, was man wollte. Nun habe ich auch die Möglichkeit bekommen, meinen alten Wunsch zu erfüllen, eine Dissertation zu schreiben und zu verteidigen."

Im November 1994 wurde eine Ausstellung von Kunst aus Osteuropa in Berlin eröffnet, einer der Gäste war der damalige tschechoslowakische Botschafter Jiri Grusa:

"Jiri Grusa kam auf mich zu und seine Begrüßungsformel war nicht die übliche Begrüßungsformel, sondern er sagte: Sie müssen das für uns machen, das Karl Dedecius für die Polen gemacht hat. Sie müssen eine tschechische Bibliothek machen. Meine Antwort darauf: Das mache ich gern!"

Keiner war besser geeignet für die Zusammenstellung der Tschechischen Bibliothek als Eckhard Thiele. Damals ahnte Thiele jedoch noch nicht, was seine Zusage bedeuten würde. Der Mitherausgeber Thiele macht die redaktionelle Arbeit, kontrolliert jede Übersetzung sorgfältig mit dem Original und gestaltet die Umschläge. Jeder der bisher 26 herausgegebenen Bände ist durch seine Hände gegangen, 33 sollen es werden. Jeder Band steht für sich, die tschechische Literatur verbindet jedoch ein allgemeiner Charakterzug, erklärt der 61-Jährige:

"Im 20. Jahrhundert hat in der tschechischen Literatur und in der tschechischen Kunst überhaupt der Surrealismus eine große Rolle gespielt. Und der Surrealismus hat etwas Spielerisches, etwas Leichtes. Und das hat die gesamte Literatur auch geprägt, dieser spielerische leichte Ton, dass Dinge angerissen werden und poetisch angespielt werden, dass nicht so schwermütig in die Tiefe gewühlt wird. Das ist das Eine und das Andere ist, dass in der tschechischen Literatur und in der Sprache das Ironische sehr gut vertreten ist."

Jiri Grusa
Als Übersetzer ist man ein Universalgelehrter, man muss sich in vielen Lebensbereichen auskennen, wie Eckhard Thiele sagt "Man ist ewig geistig unterwegs":

"Übersetzen ist eine wunderschöne Arbeit, und gleichzeitig eine schreckliche Arbeit. Wunderschön ist sie weil niemand so genau liest wie der Übersetzer. Denn wenn jemand ein Buch übersetzt, muss er jeden Satz und jedes Wort in sich aufnehmen und ganz genau verstehen, denn er muss es wieder neu formulieren. Das ist das schöne am Übersetzen. Das schreckliche an der Arbeit ist, dass es sehr kraftaufwendig ist. Es ist eine schrecklich anstrengende Arbeit, eine geistige Knochenarbeit. Es höhlt einen aus, wenn man endlos an den Sätzen feilt."

Thiele hat unter anderem auch eine Biographie über Karel Capek geschrieben und jahrelang als Literaturkritiker gearbeitet. Als Übersetzer muss man stilistisch und sprachlich auf dem Niveau des Autors sein, die Übersetzer sind die besten und die genauesten Leser, sagt der Essayist:

"Und die Arbeit des Übersetzens ist einsam. Denn wer übersetzt, zieht sich auf dieses Buch zurück, arbeitet daran und konzentriert sich darauf. Und in der ganzen Zeit der Arbeit ist er allen möglichen Kontakten entzogen. Er kann weder Freunde besuchen, noch kann er mit der Familie reden, noch kann er sonst etwas unternehmen. Das heißt, er ist sehr darauf konzentriert."

Eckhard Thiele hat immer die ganze Welt interessiert. Aus gesundheitlichen Gründen kann er jedoch kaum reisen, mehr als 30 Jahre ist es her, als er das letzte Mal in Tschechien war. In Gedanken ist er aber immer dort:

"Ich bin dort geistig unterwegs und das seit Jahren und Jahrzehnten. Da ich mich immer in der tschechischen Literatur bewege, ist es so, dass ich immer im tschechischen Umfeld bin. Ich bin zwar gerade nicht in Prag, in Brünn oder in irgendeinem kleinen Ort, aber irgendwie bin ich doch dort."