Die letzte Neujahrsansprache von Präsident Vaclav Havel

Die letzte Neujahrsansprache von Präsident Vaclav Havel (Foto: CTK)

Wie in vielen anderen Ländern auch, ist sie in Tschechien traditioneller Bestandteil des 1. Januars: die von Rundfunk und Fernsehen ausgestrahlte Neujahrsansprache des Präsidenten. In diesem Jahr gewann sie dadurch an Bedeutung, dass sie einem Abschied von Präsident Vaclav Havel gleich kam, der Anfang Februar nach 13 Jahren aus dem Amt scheidet. Silja Schultheis berichtet.

Die erste Neujahrsansprache von Präsident Vaclav Havel im Jahre 1990  (Foto: CTK)
"Vierzig Jahre lang haben Sie an diesem Tag von meinen Vorgängern in unterschiedlichen Variationen stets ein und dasselbe gehört: wie unser Land blüht, wie viele Tonnen Stahl wir hergestellt haben, wie glücklich wir alle sind. Ich nehme an, dass Sie mich nicht in dieses Amt gewählt haben, damit auch ich Ihnen etwas vorlüge."

Mit diesen Worten wandte sich Vaclav Havel am 1. Januar 1990, wenige Tage nach seiner Wahl zum 1. Präsidenten nach über vierzig Jahren Kommunismus an die tschechischen Bürger. Am Mittwoch sprach er nach 13 Jahren zum letzten Mal am Neujahrstag zu ihnen und zog zugleich Bilanz über die Entwicklung des Landes in den letzten zehn Jahren.

Der Zerfall der Tschechoslowakei in zwei unabhängige Staaten am 1. 1. 1993 sei letztlich gut gewesen und Tschechen und Slowaken ständen sich heute vielleicht näher denn je, sagte Havel. Er bedauere jedoch, dass die Bürger damals nicht in die Entscheidung über die Teilung miteinbezogen worden seien.

Die letzte Neujahrsansprache von Präsident Vaclav Havel  (Foto: CTK)
Entscheidend heute, so Havel, sei in erster Linie, dass die Welt in Tschechien eine zuverlässige, anerkannte Demokratie sähe, die sich durch eine stabile innere Entwicklung auszeichnet und Mitglied in wichtigen internationalen Organisationen ist. In eben jener Verbindung zu anderen Menschen und Staaten sieht der scheidende Präsident die Grundidee der tschechischen Staatlichkeit. In Anlehnung an einen Ausspruch des 1. Tschechoslowakischen Staatspräsidenten Tomas Garrigue Masaryk, nach dem die tschechische Frage eine menschliche Frage sei, sagte Havel:

"Das Interesse am anderen, menschliches Verantwortungsbewusstsein, Sinn für Gerechtigkeit und Solidarität - das sind die Werte, die man als Idee des tschechischen Staates bezeichnen kann."

Er sei optimistisch, so Havel weiter, was die künftige politische Entwicklung des Landes angehe. Neue, von der kommunistischen Vergangenheit unbelastete und weniger voreingenommene Generationen seien im Heranwachsen. Und auch die im vergangenen Jahr in Tschechien abgehaltenen Parlaments- und Kommunalwahlen hätten ein positives Zeichen gesetzt:

"Wir können uns über die geringe Wahlbeteiligung und über manch anderes beklagen. Aber eines kann man nicht bestreiten: Nämlich dass neben denen, für die die Politik nur ein zweckgeleitetes Manövrieren in der Sphäre der Macht ist, und die Macht selbst nur eine Beute, die es aufzuteilen gilt, in der Politik auch offene Menschen wirken können, die bereit sind, anderen zuzuhören. Kurz gesagt: solche, die der Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten ihren eigentlichen Sinn zurückgeben. Und das gibt uns neue Hoffnung."

Optimistisch äußerte sich der Präsident auch hinsichtlich des im Juni bevorstehenden Referendums über den tschechischen EU-Beitritt. Was die mit Spannung erwartete Wahl des nächsten Präsidenten am 15. Januar anbelangt, so sagte Havel, er glaube, dass zu seinem Nachfolger ein kluger, offener und verantwortungsbewusster Mensch gewählt werde. Entscheidend sei jedoch nicht allein die Wahl des Präsidenten:

"Ohne die Unterstützung der Bürger vermag auch der beste Präsident nicht viel auszurichten. Genau das habe ich übrigens bereits vor 13 Jahren in meiner ersten Neujahrsansprache gesagt. Und heute, wo ich zum letzten Mal zu Neujahr zu Ihnen spreche, bleibt mir nichts als dies zu wiederholen."