Die Semler-Residenz – ein Architekturdenkmal von Adolf Loos in Pilsen

Das Gebäude der Semler-Residenz

Die Semler-Residenz wurde von 1932 bis 1934 nach Plänen des Architekten Adolf Loos in Plzeň / Pilsen errichtet. Der repräsentative Familienwohnsitz des Ehepaares Oskar und Jana Semler entstand durch den Innenausbau eines Wohnhauses in der Straße Klatovská 110. Dabei wurde ein Loos´scher Raumplan verwirklicht. Nach einem Jahrzehnt aufwändiger Restaurierung ist in dem Gebäude nun ein Zentrum für regionale Architektur eröffnet worden. Dessen Hauptattraktion ist die Semler-Wohnung selbst, in der Führungen stattfinden. Die Ideen der architektonischen Moderne, die Loos hier zusammen mit seinem Berufskollegen Heinrich Kulka anwendete, werden dabei ebenso thematisiert wie die Geschichte der deutsch-jüdischen Fabrikantenfamilie Semler.

Adolf Loos im Jahr 1904 | Foto: Otto Mayer,  Wikimedia Commons,  public domain

Adolf Loos kam erstmals 1907 nach Pilsen. Er wurde von dortigen Verwandten des Schriftstellers Karl Kraus eingeladen, mit dem er in Wien befreundet war. In den darauffolgenden Jahren gestaltete er in der Industrie- und Brauereistadt Wohnungen für die Unternehmer Otto Beck und Wilhelm Hirsch um. Von 1927 bis zu seinem Todesjahr 1933 erhielt Adolf Loos dann in Pilsen eine größere Anzahl von Aufträgen. Klienten fand der in Österreich-Ungarn geborene Architekt, der nach 1918 die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft annahm, im gehobenen deutsch-jüdischen Bürgertum. Die überwiegende Mehrheit der 90.000 Einwohner des westböhmischen Ballungszentrums waren indes Tschechen. Nach derzeitiger Kenntnislage habe Adolf Loos dort mindestens zwölf Wohnungen und eine Zahnarztpraxis ganz oder teilweise neugestaltet, sagt Petr Domanický von der Abteilung für Architektur der Westböhmischen Galerie in Pilsen, die sich um das Loos´sche Erbe in der Stadt kümmert:

„Alle Interieurs des Architekten in Pilsen sind in ältere Häuser eingefügt, Loos schuf hier keine Neubauten. Das entsprach offenbar der Absicht seiner Auftraggeber, denen viel an einer guten Adresse gelegen war. Dadurch entstand ein Kontrast zwischen der Außenansicht und dem Gebäudeinneren. Loos verstärkte diesen Überraschungseffekt noch dadurch, dass er die Eintretenden auf einem Umweg zu den Wohnräumen führte – um eine Ecke, durch einen Flur, bis sich plötzlich der Hauptraum vor ihrem Blick öffnete.“

Flur im Obergeschoss | Foto: Radovan Kodera,  Westböhmische Galerie in Pilsen

Drei Dimensionen im Blick – der Loos´sche Raumplan

Eine solche gute Lage war im frühen 20. Jahrhundert die Klatovská třída, die früher „Ferdinandstraße“ geheißen hatte. Sie verläuft von der Stadtmitte südwärts. Die boulevardartige Verkehrsader war eine belebte Geschäftsstraße, gesäumt von einer Allee und gediegenen Mietshäusern. Am zentrumsnahen Beginn der Straße etablierte die deutsch-jüdische Unternehmerfamilie Semler um die Jahrhundertwende ihren Wohn- und Geschäftssitz. Die Brüder Oskar und Hugo Semler stellten in zweiter Generation Metallwaren her: Gartengeräte, Drahtwaren und später auch Grammofonnadeln. Als der Platz knapp wurde, kauften Oskar Semler und seine Frau Jana 1932 ein paar Häuserblocks weiter noch ein Haus dazu. Dieses Mehrfamilienhaus mit Garten auf Nummer 110 war für höhere Angestellte der Škoda-Werke bestimmt gewesen, des größten Maschinenbauers der Stadt. Die Semlers wollten den Westtrakt als Familienwohnsitz ausbauen. Sie betrauten Adolf Loos und dessen Atelier damit. Loos entwarf zunächst einen Raumplan.

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„Nach heutigen Begriffen können wir statt ‚Raumplan‘ auch ‚3D – dreidimensionale Raumwahrnehmung‘ sagen. Loos dachte bei der Innenraumplanung auch die vertikale Dimension mit, er arbeitete nicht nur mit dem Grundriss. Er vertrat die Ansicht: Wenn jeder Raum eine andere Fläche hat und einem anderen Zweck dient, können die Räume auch verschiedene Höhen haben. Und er verstand es, die unterschiedlich hohen Räume fließend so miteinander zu verbinden, dass sie ein funktionales und ästhetisches Ganzes bildeten und dass sich die Nutzer von einem Raum in den anderen begeben konnten ohne zu bemerken, dass sie sich nach einigen Stufen plötzlich um ein Halbgeschoss oder ein Geschoss höher befanden“, so Petr Domanický.

Modell der Semler-Residenz mit eingebauter Loos-Wohnung von Miroslav Koranda | Foto: Westböhmische Galerie in Pilsen

Das Konzept des Raumplans hatte sich Adolf Loos von öffentlichen Gebäuden wie Theatern oder Kirchen abgeschaut, bei denen vielfältige Nebenräume auf mehreren Ebenen um einen großen zentralen Raum gruppiert sind. Diese Raumanordnung übertrug der Sohn eines Brünner Steinmetzen und Bildhauers auf Wohnungen und Wohnhäuser. In Pilsen wendete Loos seine besondere Art der Raumplanung nur bei der Semler-Residenz an. Fünf Raumebenen sind es insgesamt, die in drei ursprüngliche Geschosse des Gebäudes eingefügt wurden. Die Raumanordnung ist an die Prager Villa Müller angelehnt, das bekannteste Bauwerk von Adolf Loos im heutigen Tschechien. An der Villa Müller hatte Loos kurz vor der Semler-Residenz gearbeitet, die ebenfalls die Struktur einer Villa hat.

Villa Müller | Foto: Eva Turečková,  Radio Prague International

Fertig wurde die villenartige Wohnung in Pilsen erst 1934, also nach dem Tod des Architekten. Die ausführenden Arbeiten leitete Heinrich Kulka. Er war damals Partner des Wiener Ateliers von Adolf Loos und hatte von Beginn an der Planung der Semler-Residenz mitgewirkt. Dazu Fachmann Domanický:

Heinrich Kulka | Foto: Tschechisches Fernsehen

„Wir können davon ausgehen, dass sich Heinrich Kulka als Architekt mit viel Erfahrung in Konstruktionsfragen hauptsächlich an solchen Projekten beteiligte, bei denen größere Eingriffe in die Bausubstanz nötig waren. Das war eben hier in der Klatovská 110 der Fall.“

Der im mährischen Litovel / Littau geborene Kulka war ein Schüler und langjähriger Mitarbeiter von Adolf Loos. 1931 gab er ein Buch über die Architektur seines Lehrers Loos heraus. Eine weitere Stütze des Wegbereiters der architektonischen Moderne in Pilsen war der Architekt Karel Lhota, ein Tscheche. Er setzte sich für die Verbreitung der Gestaltungsprinzipien von Adolf Loos unter tschechischen Architekten und Künstlern ein.

Bewegte Nutzungsgeschichte mit Folgen

Das Gebäude vor der Renovierung | Foto: Petr Domanický,  Westböhmische Galerie in Pilsen

Nach Jahrzehnten des Vergessens wurde das Pilsner architektonische Erbe von Adolf Loos in der Nachwendezeit wiederentdeckt. Die Semler-Residenz, das wertvollste seiner Architekturdenkmäler in der Stadt, wurde 2012 der Westböhmischen Galerie in Pilsen zur fachgerechten Renovierung und Nutzung überlassen. Das Gebäude war stark heruntergekommen und in Teilen verwüstet. Als der Familie Semler 1939 nach Hitlers Einmarsch in Böhmen und Mähren die Firma entzogen wurde und sie gezwungen war zu emigrieren, wurde auch ihr Privathaus von den Nationalsozialisten konfisziert. Nach Kriegsende ging es an die tschechoslowakischen Behörden über. Danach wurde es unter anderem von der Medizinischen Fakultät der Westböhmischen Universität genutzt. Die Semler-Residenz im Westtrakt selbst wurde in vier Wohneinheiten aufgeteilt. Bei der Renovierung war man nun bemüht, die ursprüngliche Ausstattung so weit wie möglich wiederherzustellen. Viele Einrichtungsgegenstände waren jedoch verloren; manche konnten nachgebaut werden. Schwer beschädigt sei das achteckige Speisezimmer gewesen, erzählt einer der Restauratoren, Robert Lamač. In der Vergangenheit müsse da einmal viel Wasser eingedrungen sein, wahrscheinlich aus dem darüber liegenden Badezimmer, so Lamač:

Speisezimmer vor der Renovierung | Foto: K. Kocourek,  Westböhmische Galerie in Pilsen

„Das Wasser hat die Wandvertäfelung so stark beschädigt, dass sich die Platten durchbogen. Und als das Holz wieder trocknete, verzog es sich, und an den Fugen entstanden Risse, sodass die gesamte Konstruktion schadhaft war und bis auf die Latten auseinandergenommen werden musste. Mit einer manuellen Presse wurden dann die Furniere neu aufgebracht – wir brauchten also altes Gerät, das unsere Schreiner noch in ihrer Werkstatt hatten. Dann haben wir die Fugen ausgebessert und zuletzt die Oberflächen behandelt. Da wir zugleich den Fußboden wiederherstellten, dauerte die Restaurierung des Speisezimmers über ein Jahr.“

Beim Restaurieren wurde keine Mühe gescheut

Speisezimmer | Foto: Radovan Kodera,  Westböhmische Galerie in Pilsen

Die Oberfläche der Wandvertäfelung des Speisezimmers behandelte der Restaurator mit einer alten Technik, der Nitropolitur. Nitropolituren – statt der heute üblichen Decklacke – trugen ursprünglich alle Holzverkleidungen der Semler-Residenz. Robert Lamač hatte in seiner Werkstatt noch eine Lösung für solche Polituren vorrätig, die heute kaum mehr im Handel erhältlich sind. Und da er auch die Technik des Aufbringens beherrscht, konnte er die Wandvertäfelung des Speisezimmers historisch getreu restaurieren. Die Wände und der Fußboden sind aus Edelhölzern wie dem dunklen, kräftig gemaserten Pyramiden-Mahagoni und gelblichem Zitronenholz. Für die harmonische Gesamtwirkung war bei der Innenarchitektur von Loos neben der Raumgliederung, den edlen Werkstoffen und der Lichteinwirkung auch die Farbgebung wesentlich. Die Farbkombinationen der Semler-Residenz seien typisch für dessen Spätphase, sagt Domanický:

„Von der Jahrhundertwende bis in die 1920er Jahre arbeitete Loos vorwiegend mit der natürlichen Struktur von Werkstoffen wie Stein und Holz. Erst während seines mehrjährigen Aufenthalts in Paris und an anderen Orten Frankreichs begegnete er der experimentellen Farbigkeit der dortigen zeitgenössischen Architektur. Und nach seiner Rückkehr 1927, als er erneut in Pilsen tätig wurde, griff er zu bunten Farben, was sowohl bei seinen hiesigen Interieurs als auch bei der Prager Villa Müller zu beobachten ist. Meines Erachtens übernahm Loos hier Eigenheiten der angelsächsischen Architektur. Die Farben sind bunt, jedoch gedämpft, und sie bilden keine schreienden Kontraste, sondern ergänzen einander.“

Wohnzimmer mit Ruheecke und Galerie | Foto: Radovan Kodera,  Westböhmische Galerie in Pilsen

Wiederkehrende Farbkombinationen der Semler-Residenz sind die moosgrünen und schwarzen Flächen des Eingangsbereichs, die Farben Gelb und Hellblau im Flurbereich sowie die weinroten Balken und vergoldeten Kassetten der Bibliotheksdecke auf der Galerie längs des Wohnzimmers. Das salonartige Wohnzimmer bildete den Mittelpunkt und Hauptraum, es ist zwei Geschosse hoch. Auf der Hausinnenseite öffnet es sich zu einer Ruheecke und einer Bar, zum erhöhten Speisezimmer und zur Galerie. Im obersten Geschoss liegen die Schlafzimmer, sie gehen auf Terrassen hinaus. Die Wirtschaftsräume, Personalappartements, Treppen und Kleingüteraufzüge sind diskret im Hintergrund gehalten. Bei den Führungen durch die Semler-Residenz kommt die Rede immer wieder auch auf die übrigen Arbeiten von Adolf Loos in Pilsen.

„Gegenwärtig sind vier Interieurs von Loos zu besichtigen: Das Haus der Familie Brummel in der Husova, dann zwei Wohnungen – die der Familie Kraus in der Bendova und jene der Familie Vogel in der Klatovská 12, von der nur das Wohnzimmer und das Esszimmer erhalten sind; und schließlich die Semler-Residenz, die als einzige der Loos´schen Wohnungen in Pilsen auf einem Raumplan beruht und mehrere Geschosse umfasst“, so Petr Domanický.

Will Semlers persönliche Erinnerungen

Westtrakt | Foto: Westböhmische Galerie in Pilsen

Als Pilsen 2015 Europäische Kulturhauptstadt war, wurden jene Teile der Semler-Residenz für Besucher geöffnet, die damals bereits renoviert waren. Das Interesse war immens. Inzwischen sind die Baumaßnahmen an dem Gebäude weitestgehend abgeschlossen. Demnächst wird im Erdgeschoss des zweiten Flügels das Café Semler öffnen, und im kommenden Jahr sollen im oberen Stock, in dem ein Infozentrum mit einer Garderobe ist, Veranstaltungen über Architektur anlaufen. Zudem wird schrittweise eine Forschungsstelle für regionale Architektur aufgebaut und ein Depot für Sammlungen angelegt.

Detail der Innenausstattung | Foto: Westböhmische Galerie in Pilsen

Für die Renovierung der Semler-Residenz waren umfangreiche Recherchen erforderlich, damit möglichst viele Details originalgetreu rekonstruiert werden konnten. Von unersetzlichem Wert war dabei der Kontakt zu einem direkten Nachkommen von Oskar und Jana Semler, ihrem jüngsten Sohn Will Semler, der in Australien lebt. Will Semler war 15 Jahre alt, als seine Familie 1939 emigrierte. Er erinnert sich an viele Einzelheiten aus dem Leben in Residenz und hat ein Buch über seine Familie verfasst. Bei den Rundgängen durch die Semler-Wohnung weisen Fotoalben und Videos auf die einstigen Besitzer hin. 2014 besuchte Will Semler sein Elternhaus in der Klatovská. Vor kurzem beging er seinen 99. Geburtstag. Aus Pilsen erreichten ihn Glückwünsche. Will Semlers Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

Luster im salonartigen Wohnzimmer | Foto: Jiří Strašek,  Westböhmische Galerie in Pilsen

Führungen durch die Semler-Residenz in Deutsch können für Gruppen bis zu zehn Personen bestellt werden. Größere Gruppen werden gesplittet. Wer mit einer tschechischen Gruppe mitgehen will, kann ein deutsches Handout bekommen.