Die tschechische „koleda“ – mehr als nur ein Weihnachtslied
Alles, was an Weihnachten gesungen wird, gilt im Tschechischen als „koleda“. Doch der ursprüngliche Begriff bezieht sich nicht auf Weihnachtslieder. Radio Prag International hat sich dazu mit dem Musikethnologen Lubomír Tyllner von der tschechischen Akademie der Wissenschaft unterhalten.
„Narodil se Kristus pán“, so heißt dieses Weihnachtslied auf Tschechisch. Lubomír Tyllner spielt es, weil es auch in Deutschland beliebt ist, und zwar als „Freu dich, Erd und Sternenzelt“. Doch ursprünglich ist es ein tschechisches Lied und stammt aus dem 15. Jahrhundert. Erst über ein katholisches Gesangbuch für die deutschsprachige Gemeinde im nordböhmischen Litoměřice / Leitmeritz kam es Mitte des 19. Jahrhunderts auch nach Deutschland.
Hier in Tschechien gilt das Lied als sogenannte „koleda“. Dieser Begriff stammt vom lateinischen Wort kalendae ab, also den Kalenden. Damit meinten die Römer den ersten Tag im Monat. Und weiter der Musikethnologe:
„Der Begriff hat sich bei den slawischen Völkern eingeprägt – so etwa bei den Polen, den Slowaken oder den Südslawen. In den germanischen oder romanischen Sprachen oder in Großbritannien wird das Wort nicht genutzt. Es ist also mit der ländlichen Kultur der Slawen verbunden.“
Die Römer feierten vor allem die kalendae des Jahresbeginns mit Gesang. Zunächst begann das Jahr allerdings im März. Erst durch die Kalenderreform im Jahr 153 vor Christus rückte dies in den Januar. Die slawischen Völker pflegten eine vergleichbare Tradition, das neue Jahr zu begrüßen. Konkret hatte die tschechische „koleda“ laut Tyllner ursprünglich gleich drei Bedeutungen:
„Es ist zum einen ein Rundgang, bei dem die Sänger an den Häusern vorbeiziehen und jeweils ein Lied vortragen. Dann meint es auch die Geschenke, die diese Sänger erhalten – meist in Form von Lebensmitteln wie Getreide oder Kuchen. Und die dritte Bedeutung ist die des Wunsches. Bei dem Rundgang wurde alles Gute gewünscht, vor allem wirtschaftlicher Erfolg im neuen Jahr. Ähnliche Bräuche gibt es auch im deutschsprachigen Raum, vor allem mit den Sternsingern. Doch die Variante, bei denen die Sänger unter den Fenstern der Häuser oder in den Höfen ihre Lieder zum Besten gaben, ist gerade für die bäuerlichen slawischen Völker typisch.“
Heute allerdings meine der Begriff „koleda“ jegliche Musik, die im Advent oder an Weihnachten gespielt werde, betont der Fachmann.
Traktat aus dem Mittelalter
Doch zunächst war „koleda“ noch der Sängerrundgang. Die erste Erwähnung dieses Brauches stammt aus der Zeit um 1400. Und zwar aus einem Traktat, das dem Benediktiner-Mönch Jan aus Holešov / Holleschau zugeschrieben wird.
„Der Mönch hat in dem Traktat festgehalten, was alles an Weihnachten passiert. Er schrieb dies allerdings nicht mit der Intention, die Bräuche zu schildern, sondern um auf Verfehlungen hinzuweisen. Jan kritisierte also mehrere Dinge. Dabei erwähnte er auch, dass Sänger die Häuser abklapperten und Lieder zum Besten gaben. Konkret zitierte er: ‚Vele, vele, stojí dubec vprostřed dvoru‘ – also etwa ‚Hej, hej, da steht ein Eichenbaum mitten auf dem Hof‘. Mehr hat der Mönch nicht erwähnt, aber für uns ist es heute die erste erwiesene ‚koleda‘. Denn auch in den Texten weiterer Weihnachtslieder werden Bäume erwähnt, die mitten auf dem Hof stehen“, so Tyllner.
In seinem Traktat führt Jan aus Holešov das Lied als Beispiel an für die heidnischen Bräuche. Der Mönch schreibt zudem, dass auch die Priester die Häuser abliefen. Sie ließen die Bewohner das Kreuz oder ein Bild von Christus küssen. Wer dies nicht tat, galt als Heide.
Laut dem Musikethnologen war es aber eher ein Zufall, dass überhaupt im Mittelalter eine „koleda“ irgendwo erwähnt wurde. Notenaufzeichnungen der damaligen Lieder entstanden jedoch nicht – und zwar solange diese heidnischen Ursprungs waren. Erst später kamen religiöse Stücke hinzu, die sich auf Weihnachten bezogen. Lubomír Tyllner:
„Vor allem während der Zeit des musikalischen Barocks wurden Gesangbücher geschrieben, die mehrere Hundert oder sogar Tausend Lieder umfassten. Einige dieser höchst religiösen Stücke wurden so beliebt, dass sie praktisch zu Volksliedern wurden. So verbanden sich die ursprünglichen vorchristlichen ‚koledy‘ mit den neuen christlichen Liedern, in denen es um die Geburt Christi ging.“
Die Lieder aus den Gesangbüchern, die vor allem zwischen 1600 und 1800 entstanden, hätten sehr ähnliche Inhalte, erläutert der Wissenschaftler:
„Dort taucht gerne das Motiv der Geschenke auf, die dem Jesuskind gebracht werden. Des Weiteren ist es die Reise, der Weg nach Bethlehem. Ebenso geht es um die Erlebnisse der Sänger. Häufig wird der Hirte besungen. Denn Hirten waren die Ersten, die erfuhren, dass der Heiland geboren wurde.“
Anonyme Autoren und Barockkomponisten
Tyllner verweist dabei auch auf die „Böhmische Hirtenmesse“ von Jan Jakub Ryba, das im tschechischen Sprachraum wohl beliebteste Weihnachtswerk. Dieses beginnt mit den Worten „Hej, mistře, vstaň bystře“, deutsch übersetzt als „Hallo Meister, wach schnell auf“. Es sind die Hirten, die ihren Vorsteher wecken, damit dieser in den Himmel schaue und den Stern sehe, der die Geburt Christi verkündet.
„Ryba wählte eine einfache Melodie aus aufgelösten Akkorden – und zwar jenes Instruments, das man Hirtenposaune oder Naturtrompete nennt. Dieses wurde aus einem einzigen Stück Tannenholz hergestellt und konnte nur die Töne eines aufgelösten Quintakkords wiedergeben. In dieser Weise beginnen eben die Weihnachtsmesse, aber auch die böhmischen und mährischen Weihnachtslieder“, so Tyllner.
Viele der sogenannten „koledy“ stammen allerdings von anonymen Autoren. Erst ab dem Barock traten einige Komponisten hervor. Einer von ihnen sei bei den Tschechen besonders beliebt, sagt der Musikethnologe:
„Dies ist der Jesuit Adam Michna z Odradovic. Er verfasste unter anderem Gesangbücher mit eindeutig weihnachtlichen Liedern. Dabei schrieb er die Texte und komponierte auch die Musik dazu. Die Melodien sind schön und lieblich, zugleich aber so einfach, dass sie zu Volksliedern wurden. In vielen weiteren Gesangbüchern aus dem Barock ist jedoch die Autorenschaft der Stücke ungeklärt. Zwar wissen wir jeweils, wer die Bücher zusammengestellt hat, aber es bleibt offen, ob derjenige auch die Lieder geschrieben hat. Das gilt zum Beispiel für ‚Nesem Vám noviny‘ oder ‚Veselé vánoční hody‘.“
„Nesem Vám noviny“ wurde bereits im 19. Jahrhundert ins Deutsche übersetzt. Das Lied mit dem Titel „Kommet, ihr Hirten“ gehört in Deutschland und Österreich mittlerweile zu den beliebtesten Weihnachtsliedern überhaupt.
Doch der Austausch lief ebenso in die entgegengesetzte Richtung. Das heißt, dass zahlreiche Lieder aus anderen Sprachräumen ins Tschechische übernommen wurden und heute als „koledy“ bezeichnet werden…
„Aus Frankreich würde ich da vor allem ‚Panis angelicus‘ erwähnen, das berühmte Lied von César Franck. Oder das englische Stück ‚Adeste fidelis‘ aus dem 18. Jahrhundert. Und aus Deutschland kam die liebliche ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘ zu uns. Das Lied ist vor einiger Zeit zweihundert Jahre alt geworden. Ebenso muss man „Jingle Bells‘ erwähnen. All diese Lieder werden ‚koledy‘ genannt, obwohl sie es ursprünglich gar nicht sind“, sagt der Wissenschaftler Tyllner.