Erinnerungen an die Grenzöffnung – Der Laborant

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Vor 30 Jahren wurden die Grenzübergänge zwischen Bayern und Böhmen für den regulären Verkehr geöffnet. Für viele Menschen auf tschechischer und deutscher Seite war es ein prägendes Ereignis. Zum Beispiel für Miroslav Kalaš. Er war 1990 Laborant im Krankenhaus von Planá / Plan und wurde schließlich Bürgermeister der Kleinstadt in Westböhmen.

Miroslav Kalaš  (Foto: Archiv des Geschichtsparks Bärnau-Tachov)

Miroslav Kalaš ist heute 87 Jahre alt und stammt ursprünglich aus Prag. Zum Medizinstudium, seinem eigentlichen Berufswunsch, wurde er aus politischen Gründen nicht zugelassen. Nach seiner Ausbildung zum Laboranten zog er nach Planá in Westböhmen. Knapp 20 Kilometer sind es von dort bis zur Grenze und bis zum ersten Ort auf deutscher Seite, Mähring. Bis 1989 waren Kontakte dorthin ausgeschlossen:

„Aus unserem Fenster sah ich sonntags mit einem Fernglas, wie Menschen in Mähring zur Kapelle der Heiligen Anna hochgingen, um dort die Messe zu besuchen – während dort in der Woche Kühe weideten. Und das war unser grenzüberschreitender Kontakt, der einzige, der möglich war.“

Miroslav Kalaš leitete vor der Wende das Labor im Krankenhaus von Planá. Als unscheinbar und grau charakterisiert er die damaligen Lebensumstände, das Regime habe alle Menschen mit herausragenden Fertigkeiten kleingehalten. Stark im Gedächtnis geblieben ist ihm der Grenzstreifen, ein mehrere Kilometer breiter Abschnitt direkt an der Grenze, der für die Bevölkerung unzugänglich war.

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„(…) Die Menschen, die im Grenzgebiet lebten, hatten immer wieder Kontakt mit den Angehörigen der Grenzwache, die hier ihrer Tätigkeit nachgingen. Diese interessierten sich vor allem für Grenzverletzer, also Menschen, die in die Freiheit fliehen wollten und mit Gewalt bei uns festgehalten wurden, mit Hilfe verschiedener Techniken wie zum Beispiel mit Minenfeldern, elektrisch geladenen Zäunen, Hunden und so weiter“, so Kalaš.

Nach der Samtenen Revolution von 1989 erlebte Miroslav Kalaš die allmähliche Phase der Öffnung zum Westen. Die Grenzwachen zogen erst nach und nach ab. Zugleich liefen Verhandlungen, welche Übergänge tatsächlich bald regulär für die Bevölkerung geöffnet werden sollten. Am 30. April und 1. Mai 1990 gab es in Mähring die sogenannte „Probegrenzöffnung“. Miroslav Kalaš:

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„Die Öffnung war natürlich ein Fest. Von beiden Seiten der Grenze kamen die Vertreter der Gemeinden, manche auch direkt aus dem Grenzgebiet. Vor allem haben wir uns alle darauf gefreut, die Grenze zu überqueren. Wie wird das werden? Wie leben die Menschen hier? 40 Jahre lang wussten wir nichts.“

Am 30. April 1990 durften zunächst die Tschechen ohne Visum nach Mähring. Am darauffolgenden Tag kamen die Deutschen zum Gegenbesuch in die Tschechoslowakei. Über 30.000 Menschen nutzten die Gelegenheit, sich im Nachbarland umzusehen. Volksfeststimmung habe geherrscht, erinnern sich die Zeitzeugen. Für Miroslav Kalaš war es vor allem ein feierlicher Moment:

„Man muss sich die tolle Atmosphäre vorstellen. Deutsche und Tschechen stehen einander gegenüber. Und sie sind keine Feinde mehr, wollen nicht mehr ideologisch unversöhnlich miteinander kämpfen. Alle stehen dort in dem Wunsch, es möge für immer so bleiben.“

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Neben den Reden von Politikern und Kirchenvertretern ist Miroslav Kalaš aber auch ein ganz profanes Ereignis im Gedächtnis geblieben. Es geschah inmitten der Zeremonie…

„Auf einmal hörte man im Wald ein Schnaufen. Zum Vorschein kam eine dicke Dame mit zwei Taschen voller Vorräte. Der heilige Augenblick der Grenzöffnung interessierte sie überhaupt nicht. Sie beeilte sich, mit den Taschen durch den Grenzwald nach Hause zu kommen. Es war die Ehefrau eines Offiziers der Grenzwache. Sie hat die feierliche Annäherung beider Völker auf ihre eigene Art erlebt.“

Während die Redner Völkerverständigung und neue Freundschaft beschworen, hatte die Dame schlicht die erste Gelegenheit zum Einkaufen auf deutscher Seite genutzt. Miroslav Kalaš schließlich konnte die weitere Annäherung zwischen Tschechen und Deutschen selbst mitgestalten. 1990 wurde er der erste demokratisch gewählte Bürgermeister von Planá nach der Samtenen Revolution.

Die Zeitzeugenaufnahmen stammen aus dem Ausstellungsprojekt „Wieder Nachbarn – 30 Jahre Grenzöffnung“ der Museumsfachstelle der Ikom Tirschenreuth. Wir danken Barbara Habel für die freundliche Genehmigung. Die komplette Ausstellung wird wegen Corona erst im kommenden Jahr gezeigt, kann aber jetzt bereits online abgerufen werden unter: https://www.bbkult.net/projekte/kulturbruecke/30-jahre-grenzoeffnung.