Flüchtlingspolitik: Wahlkampfthema in Tschechien?
Laut Umfragen bereitet Tschechen der Flüchtlingsstrom nach Europa besondere Sorgen. Wie wirkt sich das im Wahlkampf aus?
So wurde beispielweise am Dienstag eine große Wahlkampfdebatte der Tageszeitung MF Dnes genau mit dem Thema eröffnet. Finden sich aber auch in den jeweiligen Wahlprogrammen entsprechende Antworten? Der Politologe Václav Drozd von der Prager Karlsuniversität saß vor kurzem auf dem Podium einer Diskussion zum tschechischen Wahlkampf und der Migrationspolitik, veranstaltet von der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Multikulturellen Zentrum in Prag:
„Ich habe die Wahlprogramme aller relevanten tschechischen Parteien analysiert. Daraus folgt, dass das Thema ‚Migration‘ für keine Partei jetzt vor den Wahlen grundlegende Bedeutung hat. Im Jahr 2015 war es noch ein großes Thema gewesen, das die Massen bewegt hat. Heute zeigt sich, dass die Flüchtlinge im Grunde die Programme nicht umgeschrieben haben. Das Thema wird vollkommen von der radikal rechten Partei ‚Freiheit und direkte Demokratie‘ von Tomio Okamura besetzt, die sich mit der deutschen AfD vergleichen lässt. Sie baut auch auf einer migrationsfeindlichen Rhetorik auf. Die anderen Parteien weichen dem Thema eher aus. Falls sie sich aber im Wahlprogramm dazu äußern, dann im Sinne einer restriktiven Politik. Das heißt, es sei nötig, die Migrationsströme zu reduzieren oder die Migration zu regulieren. Als Einziges fallen die Grünen aus diesem Rahmen, sie fordern ein liberales Vorgehen. Dann gibt es die Piratenpartei, die noch nicht im Parlament sitzt, aber auch keine klare Haltung in der Migrationspolitik zeigt. Die restlichen Parteien stimmen in den meisten Punkten zu dem Thema überein.“
Dazu gehören beispielsweise die konservativen Bürgerdemokraten, aber auch die Sozialdemokraten und die Kommunisten. Bei den Christdemokraten bestehen laut Drozd unterschiedliche Meinungen in der Flüchtlingsfrage – tendenziell seien sie aber eher restriktiv. Die konservative Partei Top 09 schreibe nur wenig zum Thema, auch wenn bei ihr prinzipiell eine eher liberale Einstellung vorherrschen würde. Und auch die liberal-populistische Partei Ano biete kaum Substanzielles zur Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik, sagt der Politologe.Xenophobie und Islamophobie
Aus einer etwas anderen Perspektive hat sich Martin Rozumek der Frage nach der Bedeutung der Flüchtlingspolitik angenähert. Er leitet die Organisation für Flüchtlingshilfe (Organizace pro pomoc uprchlíkům), eine NGO. Rozumek hat sich ab 2015 zum Beispiel deutlich gegen Staatspräsident Miloš Zeman gestellt, der öffentlich Stimmung gemacht hat gegen Schutzsuchende aus muslimischen Ländern:
„Meiner Meinung nach ist das Flüchtlingsproblem oder die Flüchtlingspolitik ein echtes Thema für die tschechischen Parteien geworden. Leider klingen sie in ihren Äußerungen dazu aber ziemlich einheitlich, das heißt xenophob oder zum Teil auch islamophob. Das trägt negativ zur Diskussion bei. In der tschechischen Politszene müsste auch ein Andrej Kiska (slowakischer Präsident, Anm. d. Red.) oder Van der Bellen (österreichischer Bundespräsident, Anm. d. Red.) auftauchen – eine Stimme, die sagt, dass es Menschen sind, die vor Krieg fliehen. Dazu sollte auch eine Stimme erklingen zur Flucht aus wirtschaftlichen Gründen, die an die wenig erfreuliche demographische Entwicklung in Tschechien erinnert. Also daran, dass wir dringend sowohl Arbeiter, als auch Studenten oder Familien mit Kindern brauchen und die Migrationspolitik sehr viel offener gestaltet werden sollte. Solche positiven Stimmen fehlen vonseiten der Politiker“, so Rozumek.Laut Václav Drozd gab es seit 1990 in der tschechischen Migrationspolitik unterschiedliche Phasen. Es begann mit einer liberalen Zeit bis 1996, darauf folgten drei restriktive Jahre. Seit 2008 bereits befände sich das Land in einer neorestriktiven Phase, sagt der Politologe.
Martin Rozumek lenkt die Aufmerksamkeit aber noch auf einen weiteren Aspekt des Themas: die Integration von Zuwanderern. Auch wenn in Tschechien beispielsweise in den ersten neun Monaten dieses Jahres nur gut 1000 Menschen um Asyl gebeten haben…
„Die Integrationspolitik kommt in den Programmen der tschechischen Parteien überhaupt nicht vor. Das ist die eine Sache. Die andere ist, dass diese Politik hierzulande ausschließlich vom Innenministerium gestaltet wird. Die Integration von Menschen, die Asyl erhalten haben oder unter subsidiärem Schutz stehen, gelingt dabei relativ gut in der Zusammenarbeit von Innenministerium und Nichtregierungsorganisationen. Bei der Migrationspolitik jedoch und Menschen, die hierzulande arbeiten, studieren oder unternehmerisch tätig sind, versagt das Innenministerium. So werden nicht noch weitere Experten zu Rate gezogen, wie etwa Beamte aus dem Arbeitsministerium, Demographen, Forscher oder Wirtschaftsvertreter. In diesem Bereich sollte in sehr viel größeren Rahmen nach Lösungen gesucht werden. Man sollte nicht nur alles nach Sicherheitsfragen beurteilen, jeden Fremden dann als potenzielle Bedrohung sehen und ihn loswerden wollen. Wir müssen uns stattdessen von dieser Art der Wahrnehmung lösen“, sagt Rozumek.Bedarf an ausländischen Arbeitskräften
Wie wichtig dieser zweite Aspekt ist, zeigen die neuesten Zahlen. Demnach arbeiten heutzutage über 380.000 Ausländer dauerhaft in Tschechien. Über 40 Prozent von ihnen kommen aus der Slowakei und brauchen keine Integrationsmaßnahmen. Auch weitere Beschäftigte aus anderen slawischsprachigen Ländern tun sich tendenziell nicht so schwer zumindest mit dem Tschechischen. Aber es sind eben nicht alle. Und die Industrie hierzulande bettelt mittlerweile fast schon darum, massiv weitere Menschen aus dem Ausland beschäftigen zu können. Laut der Industrie- und Handelskammer fehlen den tschechischen Betrieben insgesamt 130.000 Arbeiter und Fachkräfte.Trotz dieses Bedarfs hält auch der Soziologe Ondřej Císář das Thema viel zu wenig reflektiert im tschechischen Wahlkampf. Císář lehrt an der Prager Karlsuniversität und berät derzeit den Präsidentschaftskandidaten Michal Horáček:
„Die geringe Reflexion rührt daher, dass bis auf eine Ausnahme ein Konsens herrscht bei den Parteien in Tschechien zu dem Thema. Es spaltet also derzeit nicht die politische Szene hierzulande. Die Diskussion entzündet sich viel stärker an anderen Fragen, die soziokultureller und sozioökonomischer Art sind. Dazu zählt die Frage nach einer gerechten Entlohnung und der Stellung Tschechiens in der internationalen Arbeitsteilung. Diese konnte im Wahlkampf aufgerollt und thematisiert werden. Die Frage der Flüchtlingskrise spielt jedoch derzeit in der Diskussion und im Wahlkampf nicht die erste Rolle und wird daher auch nicht die Wahlen entscheiden.“Bis zum Urnengang sind es noch gut zehn Tage. Die Parlamentswahlen finden am 20. und 21. Oktober statt, das sind traditionell der Freitag und der Samstag.