Geschichte des tschechisch-deutschen Verhältnisses - Teil 1

Liebe Hörerinnen und Hörer, willkommen zum Geschichtskapitel auf Radio Prag. Mit der heutigen Sendung beginnen wir eine neue Sendereihe innerhalb des Geschichtskapitels, und zwar wollen wir uns einigen der zahlreichen und komplizierten Fragen der tschechisch-deutschen Geschichte widmen. Redaktion dieser Sendung hat Lenka Cabelova, am Mikrophon sind Jitka Mladkova und Danilo Höpfner.

Viele Benennungen und Methaphern wurden schon erdacht, um das komplizierte tschechisch-deutsche Zusammenleben in seinem gesamten Spektrum zu charakterisieren. Zu den treffendsten gehört die Bezeichnung Konfliktgemeinschaft, die auch von der gemeinsamen tschechisch- deutschen Historikerkommission angenommen und verwendet wurde. Was heißt aber ein scheinbar so paradoxer Ausdruck?

Zunächst ging es um ein beiderseits eher nutzbringendes Zusammenleben, gefüllt von verschiedenen Wenn und Aber, die in der Regel die Grenze eines intensiven Verhältnisses nicht überschritten. Kleinere Zwistigkeiten stellten in gewisser Weise auch eine Inspiration und Motivation dar, sie weckten einen Wettbewerb, der dann für beide Seiten nützlich war. Später aber nahm die Häufigkeit dieser Konflikte zu, ebenso die Kraft, mit der sie ausgetragen wurden. Auch die Gründe wurden schwerwiegender. So wurde aus Streitereien um die Sprache der Strassenschilder ein Kampf um das Dasein. Es ist nicht gerade überraschend, daß ein socher Konflikt die zarten Bindungen zwischen den zwei Völkern ruiniert hat. Und es ist auch nicht überraschend, daß eine so brutale Trennung, wie die, zu der Tschechen und Deutschen gelangten, bis heute in vielen Erinnerungen als Trauma existiert. Zum Glück können wir aber feststellen, daß es in der Auffassung der gemeinsamen Geschichte immer mehr und mehr Behrührungspunkte gibt.

Auch wir wollen dieses Thema ansprechen und dabei eine möglichst ausgewogene Auslegung anbieten. Ausgewogenheit heißt nicht, daß man etwas verbirgt, jedoch wollen wir weder moralisieren noch Beschuldigungen aussprechen. Beurteilungen überlassen wir Ihnen. Unsere Aufgabe soll es sein, Voraussetzung für ein vorurteilsloses Wissen zu bieten, so weit dies möglich ist. Da uns jedoch nur begrenzte Zeit zur Verfügung steht, müssen wir auswählen. Nur einige Ereignisse, Namen, Ideen und Anschauungen können wir berücksichtigen. Das gilt besonders für den heutigen Teil. In den verbleibenden Minuten durchlaufen wir sechs Jahrhunderte des gemeinsamen Lebens, um dann in den nächsten Teilen mehr Zeit für die jüngstvergangene Geschichte zu haben.

Wenn man den Anfang des tschechisch-deutschen Zusammenlebens erwähnt, fällt vielen der Ausspruch des Präsidenten Masaryk über Immigranten und Kolonisten ein. Der Bohemist Ferdinand Seibt formuliert dies in seinem Buch "Deutschland und die Tschechen" wie folgt: Masaryk, der diese unglücklichen Worte später vergeblich wiedergutmachen wollte ... verwies die Deutschen sozusagen in die Rolle von Gastarbeitern bei der Gestaltung des neuen Staates. So sollte man den Vorgang der Kolonisation also nicht verstehen. Aber wie dann?

Die Kolonisation bedeutete nicht eine Okkupation im eigentlichen Sinne, wie man es heute verstehen könnte. Es war ein Prozess, der in ganz Europa stattfand. Wenn man nämlich technisch imstande war, den höher und weiter liegenden Boden zu bestellen, wollte man es tun. Das Problem bestand darin,dass es in den Gebieten mit viel unbestelltem Land oft nicht genug Leute gab. In anderen Gebieten lebten dagegen mehr Menschen, als man hätte ernähren können. Viele Herrscher der einwohnerschwächeren Länder haben solche Menschen einfach eingeladen, um den Boden - nicht das Land - zu kolonisieren. Zum damaligen Zeitpunkt wurde dies nicht national wahrgenommen - wie es heute oft der Fall ist. Die Kolonisten waren also keine Gastarbeiter, es waren Menschen, die eingeladen wurden, in einem anderen Land zu leben.

Erst vor wenigen Jahren hat ein Kunsthistoriker demonstriert, daß die bayerischen Landstädtchen aus dem 13. Jahrhundert ihre Vorläufer in Südwestfrankreich haben und ihre Nachfolger in Böhmen oder in Schlesien. Es handelte sich dabei nicht um den vielberufenen ´deutschen Drang nach Osten´, sondern um eine Ausweitug der Bevölkerung und um die entsprechende Erweiterung ihrer Lebensgrundlagen - beschreibt Seibt diesen kolossalen europäischen Vorgang.

Zuerst waren es die Mönche, die kamen, nämlich schon im 9. Jahrhundert. Der erste Prager Bischof, zum Beispiel, war ein Sachse, er hieß Thietemar. Später, als es schon böhmische Geistliche gab, wurde es möglicherweise zu einem Problem. Zum Beispiel Cosmas - Autor der bekannten Chronik, die seinen Namen trägt, war einTscheche, obwohl er in Lüttich, also im deutschen Raum ausgebildet wurde. Gerade sein Werk - wie Seibt charakterisiert - zeigt deutlich die nationale Rivalität, wenn es um geistliche Pfründen geht - also um Rivalität um böhmische Prälatensitze.

Wir sollten aber nicht vergessen, daß es sich damals eigentlich um keine "Deutschen" im heutigen Sinne handelte - es gab noch kein Deutschland! Diese Leute waren Angehörige diverser deutscher Stämme, sprachen verschiedene Dialekte und kamen aus den unterschiedlichsten Gebieten, die noch keine gemeinsame Identität besaßen. Und sie hatten viele progressive Technologien, Lebensweisen und Ideen mitgebracht. Zum Beispiel das Phänomen der Städte - die zukünftige Quelle der Freiheit und Modernität. Sicher, es gab damals in Böhmen Siedlungen, wo man Handel und Handwerk pflegte. Eine mittelalterliche Stadt jedoch war vor allem ein spezifisches Recht, das die Stadtmenschen von Untertanen eines Fürsten zu einem Kreis von Gleichberechtigten machte.

Stadtluft macht frei, kennen wir bis heute. Wir können auch die Bergbaumethoden erwähnen, die das tschechische Königtum zu einem besonders reichen Land machten. Später wurden diese Menschen zu böhmischen und mährischen Deutschen und gerade diese Attribute bildeten den Kern ihrer Identität. Das Adjektiv böhmisch, wie man auch das Land charakterisierte, war präziser als die Bezeichnung tschechisch. Der Begriff Terra Bohemica, Böhmerland, schließt mehrere kulturelle Elemente ein, als das einfache Tschechische Land. Tschechische Sprache kennt diese Dopplung erstaunlicherweise nicht, obwohl hier grob gerechnet sogar drei Kulturen nebeneinander lebten: die slawische, die germanische und die jüdische. Ferdinand Seibt beschreibt es folgendermassen:

Man kann nämlich im Tschechischen nicht von "böhmischer Gotik" reden und nicht von "böhmischem Glas" - man muß beide als tschechisch bezeichnen. Grund genug zu Einsprüchen für den nationalen Besitzstand im Hinblick auf Peter Parler oder die Gablonzer Glasmacher.

Das hat historische Ursachen, wie es weiter Seibt beschreibt. Der Name Böhmen ist keltischen Ursprungs und die antike Überlieferung, die den keltischen Landesnamen weitergab, wurde den Tschechen erst viel später zugänglich als den Deutschen und hat sich einfach nicht eingebürgert. Aber zurück von den Namen zum Leben. Es gab schon damals einige Probleme. Die Nationalgrenze deckte sich nämlich oft mit der sozialen oder religiösen. Das Klischee des tschechischen Dorfes versus deutsche Stadt hatte etwas in sich. Nachdem Jan Hus 1415 gestorben war, wendete sich die Mehrheit der Tschechen vom Katholizismus ab, hundert Jahre vor Martin Luther. Die Deutschen in Böhmen dagegen blieben damals Katholiken.

So geschah es, daß anderswo ein Katholik gegen einen Protestanten, ein Städter gegen einen Dorfbewohner, ein Handwerker gegen einen Patrizier stand. Im Böhmerland stand eben ein Deutscher einem Tschechen gegenüber. Während dieser Auseinandersetzungen ging es nicht primär um die Nationalität, aber man merkte schon, daß der Gegner nicht die gleiche Sprache spricht. Und gerade die Sprache wurde später zu einem heissen Symbol, wie wir in den kommenden Folgen unserer Serie noch sehen werden.

Die Hussitenkriege stärkten das tschechische Element im Lande, die Wahl der Habsburger zu tschechischen Königen dagegen eher das deutsche, oder genauer gesagt, das deutschsprachige. Sie: Im grossen und Ganzen waren aber die Habsburger an der tschechisch-deutschen Zänkerei wenig interessiert. Sie brauchten ein dynastietreues und katholisches Volk und keine "Gemeinschaft Unabhängiger Nationen".

Diesen Willen nach Unität haben nach dem Dreißigjährigen Krieg vor allem die Nicht-katholiken gefühlt - damals auch die Mehrheit der Tschechen. Und als man mit der Modernisierung des Staates begann, bekamen es alle jene zu spüren, die nicht deutschsprachig waren. Die Sprachunifizierung war eine technische Notwendigkeit, die in vielen Staaten Europas funktionierte, nicht aber in einem Vielvölkerstaat wie Österreich. Im Gegenteil, die Sprache wurde zu einem zentralen Thema der Tschechen und Deutschen im 19. Jahrhundert. Und das war die erste Ausgabe des Geschichtskapitels zumThema "Die ersten sechs Jahrhunderte zwischen Deutschen und Tschechen". In 14 Tagen geht es dann weiter mit einer Reise durch das 19. Jahrhundert.