Grenzschließungen zwischen Tschechien und Deutschland: Wir müssen reden
Mit den Anti-Corona-Maßnahmen und neu eingeführten Kontrollen sind die Grenzen in Europa wieder sichtbar und zum Thema geworden. Innerhalb der EU war freies Reisen eigentlich schon Normalität. Jetzt ist etwa der Weg nach Deutschland für viele Tschechen verschlossen – vorübergehend zwar, aber keiner weiß, für wie lange. Wie es soweit kommen konnte und welche Folgen dies für die tschechisch-deutschen Beziehungen haben könnte – das waren die Themen einer Diskussionsveranstaltung, zu der das Tschechische Zentrum Berlin geladen hatte.
„Über Grenzen sprechen“ hieß das Thema in den Online-Räumen des Tschechischen Zentrums Berlin am 10. März. Der Titel konnte gleichzeitig als dringende Aufforderung verstanden werden, auch über die geschlossenen Grenzen hinweg die Kommunikation nicht zu vernachlässigen. Auf dem virtuellen Podium hatten sich drei Diskussionspartner eingefunden, denen dieses Anliegen mit oder ohne Pandemie zur Lebensaufgabe geworden ist. Und die gute Nachricht war zunächst: Keiner von ihnen befürchtet, dass die aktuellen Beschränkungen bei Reisen zwischen Tschechien und Deutschland die gegenseitigen Beziehung dauerhaft schädigen könnten. Pavel Polák, Deutschland-Korrespondent der tschechischen Tageszeitung Denik N, drückte es so aus:
„Ich sehe es nicht so dramatisch oder auch schwarz. Was in 30 Jahren deutsch-tschechischer Beziehungen aufgebaut und geleistet wurde, das kann eine Pandemie nicht zunichtemachen. Daran glaube ich sehr.“
Dieser allgemeinen Zuversicht fügte sich allerdings gleich ein erstes Aber an. Polák äußerte sich besorgt darüber, wie einfach eine Grenzschließung durchgesetzt werden kann. Zuzana Jürgens, Geschäftsführerin des Adalbert-Stifter-Vereins, bestätigte dies mit Blick auf die große Politik:
„Seit die Grenze von der deutschen Seite aus geschlossen oder eben nur wenig durchlässig ist, fällt auf, dass die Sorge um die Auswirkungen auf die deutsch-tschechischen Beziehungen wesentlich kleiner ist als noch im vergangenen Frühjahr. Vielleicht ist es so, weil jetzt Deutschland diesen Schritt gemacht hat. Aber man sieht natürlich auch die Gründe, nämlich die schlechte Situation in Tschechien.“
Mehr Interesse am Nachbarn
Eben die Corona-Lage in Tschechien ist es, die die beiderseitigen Beziehungen thematisch dominiert – auf politischer wie auch auf zwischenmenschlicher Ebene. Jürgens‘ Beobachtung, dass in den deutschen Medien inzwischen viel mehr über Tschechien berichtet wird, kann Hans-Jörg Schmidt bestätigen. Er ist der Prager Korrespondent für die Sächsische Zeitung:
„Ich habe in 30 Jahren noch nie so viel schreiben können und müssen wie jetzt. Ich verfasse jeden Tag mindestens einen großen Artikel, und damit meine ich einen Aufmacher auf der Außenpolitikseite. Für die Sächsische Zeitung in Dresden gilt, dass die Leute wahnsinnig interessiert daran sind, was in Tschechien passiert.“
Das liege zum einen daran, dass gerade die unmittelbaren Nachbarn wissen wollen, wann die Grenze wieder passierbar wird. Und sei es nur – wie Schmidt etwas bedauernd einlenkt –, um in Tschechien wieder günstig einkaufen oder tanken zu können. Es gäbe aber noch einen weiteren Grund:
„Das Zweite ist, dass die Deutschen nicht verstehen, wie der Nachbar in einer solchen Situation sein kann. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir im Sommer und Frühherbst in Deutschland und in Tschechien ähnliche Zahlen hatten. Jetzt gab es in Deutschland eine Sieben-Tage-Inzidenz von 65,4 und in Tschechien von 760. Das ist wirklich ein Unterschied, und die Leute fragen, wie das möglich ist. Sie verstehen es nicht, weil sie die Tschechen vor einem Jahr als überaus diszipliniert erlebt haben.“
Deutsche Disziplin?
Disziplin war dann auch das Stichwort, das die weitere Diskussion prägte. Die Frage, warum sich die Corona-Lage in beiden Länder so unterschiedlich entwickelt hat, konnte keiner der drei Gäste so einfach beantworten. Vielmehr merkten sie an, dass sie dieses Thema sowohl im Arbeits- als auch im privaten Bereich dauerhaft beschäftige. Die erste Erklärung sei oft, dass es mittlerweile die Deutschen seien, die sich diszipliniert an die Anti-Corona-Maßnahmen halten würden. In Tschechien habe demnach die Bereitschaft dazu rapide abgenommen. Pavel Polák resümierte über seine Landsleute:
„Die Masken wurden schon angesprochen und die Disziplin vom März vergangenen Jahres, als die Tschechen sich aufregten, dass die Deutschen so leichtfertig sind und keine Masken tragen. Aber zur Wahrheit gehört, dass Tschechen zwar zur Disziplin fähig sind, allerdings nicht für sehr lange. Ein Monat ist etwa der Zeitraum, in dem man das hinbekommt. Da liegt der Unterschied zwischen Deutschen und Tschechen: Wenn man in Deutschland versteht, dass etwas wichtig ist, dann wird es eingehalten.“
Hier gab es aber Einspruch von deutscher Seite, nämlich von der Gastgeberin Christina Frankenberg vom Tschechischen Zentrum:
„Ich habe so meine Probleme mit der deutschen Disziplin. Ich denke, dass sich das alles in Tschechien doch reduzieren lässt auf die Politik und darauf, wie die Corona-Politik vermittelt wird. Ich meine, dass die Tschechen nicht unbedingt weniger diszipliniert sind als die Deutschen. Wenn die Maßnahmen nicht als etwas Sinnvolles vermittelt werden, dann hat es auch keinen Sinn, sie einzuhalten. Ich glaube nicht, dass die Deutschen stur Disziplin ausüben. Wenn sie etwas nicht anerkennen und nicht glauben, dann folgen sie dem auch nicht.“
Frankenberg bekam daraufhin die Zustimmung von allen Diskussionsteilnehmern, dass die aktuelle Corona-Lage weder in Deutschland noch in Tschechien durch Stereotype erklärt werden solle oder könne. Hans-Jörg Schmidt nahm den Hinweis auf die politische Ebene auf:
„Ich warne gerne in meinen Artikeln davor, dass sich die Regierenden nicht zu sehr auf das Politische konzentrieren, also mit Corona Politik machen dürfen. Sicher gibt es auch im deutschen Bundestag harte Auseinandersetzungen. Aber in Tschechien ist eine Strategie 14 Tage lang aufgeschoben worden, weil Wahlen vor der Tür standen. Dem Gesundheitsminister wurde im Herbst untersagt, die Maskenpflicht neu einzuführen, weil der Premierminister Angst hatte um seine Wahlerfolge.“
Dieser politische Missbrauch der Pandemie sorge in Tschechien zudem für verhärtete Fronten zwischen Regierungskabinett und Opposition, ergänzte Schmidt. Das verhindere eine konstruktive Zusammenarbeit und damit eine erfolgreiche Eindämmung des Coronavirus.
Dies sind komplexe Erklärungsmuster, die nicht leicht zu vermitteln sind. Vor allem, wenn sich viele Medien auf vereinfachte Darstellungen beschränken und doch wieder auf Stereotype zurückgreifen, wie Zuzana Jürgens beobachtet:
„Das Bild der Deutschen als diszipliniert stimmt nicht, ebenso wenig wie das Bild der Tschechen als die ‚Schwejks‘. Das setzt sich aber in deutschsprachigen Zeitungen im Moment durch. Wir erleben derzeit, dass durch geschlossene Grenzen und insgesamt die Pandemie der Austausch gering oder gar nicht vorhanden ist. Dies könnte Auswirkungen haben. Auch wenn man sich in Tschechien mit dem Austausch ein bisschen schwer tut, ist er einfach hilfreich. Er kann Bilder, die sich im Kopf festgesetzt haben, entfernen oder durch neue ersetzen. Jedenfalls sorgt er für eine gewisse Bewegung. Wenn jeder nur dort bleibt, wo er gerade ist, gibt es keine Bewegung, und Meinungen können sich festigen. Die von der Disziplin und dem Schwejk sind nur zwei Beispiele.“
Zusammenhalt in den Grenzregionen
Darin sieht Jürgens die anstehende Herausforderung für die Zeit nach der Pandemie. Die Akteure der tschechisch-deutschen Beziehungen werden sich den wieder vertieften Stereotypen und Vorurteilen stellen und ihnen etwas entgegensetzen müssen. Dabei hätte Jürgens zufolge schon ein gesamteuropäisches Vorgehen in der Corona-Krise helfen können:
„Es ist schade, dass wir es im Sommer verpasst haben, eine gemeinsame europäische Strategie zu entwickeln in Bezug auf die Verhaltensmaßnahmen. Gerade in benachbarten Ländern würde es helfen, wenn überall das Gleiche gilt. Dann würden sie sich vielleicht nicht so auseinanderentwickeln.“
Pavel Polák brach die Diskussion am Ende noch einmal von der großen Politik auf die zwischenmenschlichen Beziehungen hinunter. Dabei verwies er auf seine Recherchearbeiten. Der Journalist konnte eine Bemerkung aus dem Publikum nur bestätigen, dass nämlich die direkten Auswirkungen der Grenzschließungen in den zentraler gelegenen Regionen Tschechiens und Deutschlands als weniger akut wahrgenommen werden als in den Grenzregionen:
„Das stimmt hundertprozentig. Dabei möchte ich noch einmal auf die Frage antworten, ob jetzt etwas endgültig zerstört wird. Ich glaube das nicht, denn die Verflechtungen in den Grenzregionen sind sehr dicht. Die Pandemie ist kein Zustand für Jahre, sondern eher für Monate. Das kann man mit den 30 Jahren zuvor nicht vergleichen. In den Grenzregionen ist eine Sehnsucht nach der Normalität zu spüren. Nicht danach, dass man wieder in die Kneipe geht oder ähnliches. Sondern danach, dass im Grenzraum erneut ein normales Leben möglich ist, in dem man arbeiten fährt und die Freunde aus Deutschland oder Tschechien trifft. Diese Sehnsucht wächst.“
Zum Abschluss sprach Polák aus, was alle Diskussionsteilnehmer und Zuschauer wohl ähnlich empfanden:
„Ich hoffe, dass die Pandemie in diesen Ausmaßen bald endet und die Normalität in den Grenzregionen wieder einkehrt. Ich bin davon überzeugt, dass man diesen gemeinsamen Raum dann auch umso mehr genießen wird.“