Historiker Soukup: „Jan Hus und seine Richter wollten im Prinzip das Gleiche“

Jan Hus (Foto: Archiv des Badischen Landesmuseums)

Genau vor 600 Jahren wurde der böhmische Kirchenreformator Jan Hus in Konstanz auf den Scheiterhaufen geführt und verbrannt. Für die Tschechen gilt Hus als eine der größten historischen Persönlichkeiten, weil er die Entwicklung Böhmens stark beeinflusst hat. Anlässlich des diesjährigen Jubiläums wurden in Tschechien viele Veranstaltungen organisiert. Über Hus wurde ein neuer Spielfilm gedreht, und neue geschichtliche Erkenntnisse sind veröffentlicht worden. Der Prager Historiker Pavel Soukup hat sein Buch „Jan Hus – Prediger, Reformator – Märtyrer“ genannt, es ist bereits vergangenes Jahr in Deutschland erschienen. Im Folgenden ein Interview mit Pavel Soukup.

Martin Luther und Jan Hus
Herr Soukup, in Tschechien gilt Jan Hus als eine Persönlichkeit von europäischem Format. Hus soll Martin Luther mehr als ein Jahrhundert zuvorgekommen sein. Stimmen Sie zu?

„Ja, im gewissen Sinne kann man diesem Satz zustimmen. Jan Hus hat genau 105 Jahre vor Martin Luther ähnliche Gedanken wie dieser geäußert. Er hat auch gegen den päpstlichen Ablasshandel protestiert und dadurch eine ziemliche gewaltige Bewegung in der tschechischen Gesellschaft hervorgerufen. Wenn man die Sache natürlich theologisch betrachtet, dann erkennt man Unterschiede zwischen den Ansätzen von Hus und den lutherischen. Aber vom historischen Standpunkt aus würde ich sagen, dass die die Tätigkeit von Jan Hus zu ziemlich ähnlichen Ergebnissen geführt hat wie die deutsche Reformation. Nach den Hussitenkriegen entstand in Böhmen ebenfalls eine unabhängige Landeskirche, die sich nicht am Papsttum orientierte. Das würde ich durchaus einen reformatorischen Ansatz nennen. Von daher glaube ich, dass Jan Hus als Vorgänger von Luther gesehen werden kann.“

Pavel Soukup  (Foto: Archiv der tschechischen Akademie der Wissenschaften)
Hus´ Gedanken stoßen noch zu seinen Lebzeiten in Böhmen auf enorm große Resonanz. Was wollte er eigentlich ändern? Wie wollte er die Kirche reformieren?

„Jan Hus wollte, dass die Kirche zu ihren Ursprüngen zurückkehrt – das heißt dass sie sich am Evangelium orientiert und die evangelischen Lehrsätze wirklich lebt. Was er in der zeitgenössischen spätmittelalterlichen Kirche sah, das war nicht immer im Einklang mit dem Ideal der apostolischen Kirche, der Zeit Jesu und seiner Aposteln. Jan Hus wollte, dass die Gesellschaft zu diesen moralischen Wurzeln zurückkehrt. Dieses Ideal wurde auch allgemein geteilt. Selbst die Konzilsväter, die als Gegner von Hus auftraten, wollten dasselbe. Der Unterschied bestand darin, wie man den Weg zu diesem Ideal beschrieb.“

Es ging aber damals nicht nur um Theologie und Moral, sondern auch um Politik. Am Anfang erhielt Hus noch Unterstützung durch den böhmischen König Wenzel IV., dann verlor er sie aber. Warum?

Wenzel IV.
„Ja, Wenzel unterstützte Hus anfänglich, aber vor allem wollte der Monarch Ruhe in seinem Königreich. Im Jahre 1412 stellte sich Hus gegen die päpstlichen Ablassbullen, König Wenzel unterstützte hingegen den Ablasshandel. Das hatte vielleicht politische, aber auch wirtschaftliche Gründe. Durch Hus´ Widerstand kam es in Prag zu Straßendemonstrationen und zu großen Unruhen, was König Wenzel natürlich nicht dulden konnte. In dem Moment kehrte er von Hus ab. Ein Jahr später griff er aber wieder in die Kontroverse um Hus ein, diesmal auf der Seite der reformgesinnten Universitätsgelehrten, also auf der Seite von Hus. Dies hatte fatale Folgen für Hus. Er musste Prag verlassen, und aus dem Exil auf dem Lande in Böhmen ging er direkt nach Konstanz.“

Was hatten die Ablässe mit Politik zu tun?

Papst Johannes XXIII.
„Mit den 1412 in Prag verkündeten Ablässen wollte Papst Johannes XXIII. den Krieg gegen den neapolitanischen König Ladislaus finanzieren. Es war also eine eindeutig politische Angelegenheit. König Wenzel unterstützte damals zusammen mit seinem Bruder Sigismund, dem römisch-deutschen und ungarischen König, Papst Johannes. Über die Ablasskampagne wurde auch auf höchster Ebene verhandelt, also zwischen der päpstlichen Kurie und den Königs- und Fürstenhöfen.“

Hus ging freiwillig nach Konstanz, um sich vor dem Konzil dort zu verteidigen. Das Konzil befasste sich aber vor allem mit dem Doppelpapsttum. Welche Rolle spielte überhaupt Hus´ Fall dort?



Konzil in Konstanz  | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International
„Hus ging auf Einladung von König Sigismund nach Konstanz. Dieser unterstützte stark das Konzil, weil dies das päpstliche Schisma endgültig beseitigt sehen wollte. Man kann sogar sagen, dass das Schisma bzw. die Einheit der Kirche als das größte Problem empfunden wurde. Das Konzil stellte sich aber eine dreifache Aufgabe: erstens die Einheit der Kirche, zweitens die Reform der Kirche und drittens die Glaubensangelegenheiten, das heißt der Kampf gegen die Häresie. Innerhalb dieses dritten großen Themenbereichs spielte der Fall von Hus und des Hussitentums die wichtigste Rolle. Die böhmische Frage, das war erstens Hus und zweitens die Frage der Kelchkommunion des Utraquismus, also das Laien ebenfalls diese Kommunion empfangen dürfen. Über beide Themen wurde in Konstanz verhandelt. Meiner Meinung nach war das die wichtigste Sache innerhalb der Frage des Glaubens.“

John Wycliff
Eine spekulative Frage: Hätte Hus von seiner Position abschwenken können?

„Theoretisch konnte er das sicher. Es wurde ihm auch mehrmals angeboten, seine ‚Irrlehre‘ zu widerrufen. In diesem Fall wäre er zwar auch nicht freigelassen worden, er hätte lebenslang im Kerker bleiben müssen, aber wäre nicht auf den Scheiterhaufen gekommen. Hus wollte dies jedoch nicht. Er glaubte, dass er dort die Wahrheit verteidige. Es ging um die Lehre des englischen Reformators John Wycliff, die Hus größtenteils auch vertrat. Seiner Ansicht war es nicht bewiesen, dass die Lehre von Wycliff Häresie sei, deswegen wollte er sie auch nicht widerrufen. Da hätte er gegen sein Gewissen gehandelt, und das wollte er nicht.“

Das Gebäude in Konstanz,  wo das Konzil stattfand  (Foto: Gerhard Giebener,  CC BY 2.0)
Wie wir schon gesagt haben, wollten auf dem Konzil beide Seiten – sowohl Jan Hus als auch die Kirchenväter – die Kirche reformieren. Ist es nicht paradox, dass Hus dann schließlich auf den Scheiterhaufen musste?

„Das stimmt, es ist ein historisches Paradoxon, und die Historiker werden noch viel zu tun haben, um dies zu erklären. Der Hauptunterschied bestand darin, dass Jan Hus die Hoffnung verlor, die Kirche könne sich als Institution selbst reformieren. Er glaubte nicht, dass eine Kirche, die zwei oder drei Päpste hatte, imstande sei, sich noch zu helfen. Er sah die Kraft zur Reform stattdessen in den Gläubigen selbst. Jeder müsse nach seinem Wissen im Einklang mit den Geboten Christi und mit dem Evangelium leben, es helfe nichts, wenn ein Bischof irgendwelche Reformmaßnahmen einführe, so sein Gedanke. Die Konzilsväter von Konstanz wollten jedoch nicht, dass die Institution Kirche ihre Kompetenzen für eine Reform aus den Händen gab. Sie sagten, es gehe nicht, dass jeder Gläubige selbst entscheidet, ob er den Geboten einer kirchlichen Obrigkeit gehorchen wolle oder nicht. Jan Hus sah das Evangelium als die höchste Norm und überließ es jedem Gläubigen einzuschätzen, was im Einklang mit dem Evangelium ist oder nicht.“

Jan Hus
Wollte Hus die Kirche spalten und eine neue Richtung gründen?

„Er wollte keine Kirchenspaltung, er sah die Kirche als Einheit. Die wahre Kirche fand er aber nicht im Klerus oder in der Hierarchie der Geistlichkeit, sondern in der Gemeinschaft derjenigen, die auserwählt sind. Das war eine unsichtbare Kirche, keine Institution. Er wollte den Priesterstand und die Bischöfe nicht abschaffen, die Kardinäle und Papst hielt er aber schon für fraglich. Es wäre also eine dezentralisierte Kirche gewesen, eine Gemeinschaft kleiner Gemeinden, die nach dem Vorbild der Apostelurkirche leben. Diese Vorstellung war natürlich im Spätmittelalter bereits völlig utopisch. Die Kirche verfügte damals über einen großen Machtapparat, dessen sie sich auch bedienen musste.“

Hus hat die böhmische Geschichte stark geprägt. Gilt das auch für den europäischen Kontext? Welche Spuren hat er im religiösen Denken Europas hinterlassen?

„Anfänglich waren es negative Spuren. im 15. Jahrhundert gab es eine starke Welle antihussitischer Polemik, die Theologen reagierten negativ auf die Gedanken von Jan Hus. Auch mit Martin Luther änderte sich das später. Luther hat sich zu Hus bekannt. Als er dessen Buch über die Kirche gelesen hatte, soll Luther gesagt haben: ‚Wir sind alle Hussiten, ohne es zu wissen.‘ Die reformierten Kirchen Europas sahen in Hus einen Vorläufer. So ist es eigentlich bis heute.“


Pavel Soukup hat an den Universitäten in Bern, Konstanz und Berlin studiert und an der Berliner Humboldt-Universität unterrichtet.