Leben gegen den Strom - Lebensgeschichten des 20. Jahrhunderts (Teil 4)
In der Ex-Tschechoslowakei geboren, als Kinder antifaschistisch eingestellter Familien vor dem Krieg nach England geflüchtet, nach dem Krieg freiwillig in das Heimatland zurückgekehrt und kurz danach demselben den Rücken gekehrt. So lässt sich in komprimierter Form das Schicksal von Walter Tschapek und Fritz Köhler zusammenfassen, die wir Ihnen vor zwei Wochen in der Sendereihe Heute am Mikrophon vorgestellt haben. Wie ging es also weiter, nachdem sie im März 1939 mit ihren Familien und weiteren Flüchtlingen von Prag aus über Polen und Schweden nach England geflüchtet waren. Das erfahren sie in einer Fortsetzung in der neuen Folge von heute am Mikrophon:
Die Väter von Walter Tschapek und Fritz Köhler mussten als Antifaschisten aus dem Land fliehen. Seit Dezember 1938 befanden sie sich bereits in Großbritannien. Die schwarzen Kriegswolken ballten sich zunehmend über Europa zusammen und die Situation in der mittlerweile aufgrund des Münchner Vertrages beschnittenen Ex-Tschechoslowakei war mit jedem Tag komplizierter. Ende März 1939 ist es den beiden Familien gelungen, den Frauen und den Kindern, mithilfe der Diplomatie und mit dem so genannten Interimspass im Reisegepäck nach England auszureisen. Offiziell hieß es "Familienzusammenführung". Wie hat man sie empfangen?
"Die Ausländer waren generell nicht sehr willkommen. In meinem "Registrationbook" gab es alle damals üblichen Stempel. Gleich der erste von ihnen trägt die Inschrift: ´Verpflichtet sich zu möglichst baldiger Ausreise.´ Selbst diejenigen, die schon vor uns in England angekommen waren, standen ständig unter einem großen Druck durch die Behörden. Man sollte versuchen, woanders hinzugehen. Manche sind dann nach Kanada ausgewandert."
Die Ausreise war keineswegs leicht und sei eigentlich nur durch einen Trick der Hilfsorganisation möglich gewesen, behaupten heute beide Herren:
"Der Trick bestand darin, dass gesagt wurde: 'Die reisen nur durch. Die bleiben nicht, sondern sind auf dem Weg nach Kanada.' Denn die Genehmigung Englands für das Visum war von Anfang an durch die Ausreise nach Kanada bedingt. Es kam aber der Krieg dazwischen."
Und warum ausgerechnet nach Kanada?
"Es war nämlich Folgendes passiert. In Kanada hatten sie eine riesengroße Eisenbahnlinie gebaut, doch an der Eisenbahnlinie wohnten keine Leute. Auch an den Bahnhöfen gab es keine Leute. Daher hat die Eisenbahngesellschaft bei der kanadischen Regierung bewirkt, dass Leute aus Europa einreisen können.
Die Neuankömmlinge trieben sich einige Zeit in England herum, bis sie in London landeten. Man habe in einem großen Heim für Flüchtlinge gewohnt, sagt, Herr Tschapek, wo sein Vater als Buchhalter und die Mutter als Köchin tätig waren. Auf die Frage, wie für sie damals das Leben in London war, erinnert sich Herr Köhler an Folgendes:"Am Anfang, als wir nach London kamen, war die Vorbereitung auf den Krieg schon irgendwie überall präsent. Aus den Erfahrungen vom Bürgerkrieg in Spanien mit den Sturzbombern hatten die Engländer überall über London ihre Fesselballons. Das hatte für mich einen bleibenden Eindruck. Man hat auch ein englisches Lied darüber gesungen, dass es umsonst Gasmasken gibt.´Underneath the blinking Chestnut-tree Mister Chamberlain said to me, if you want to have a gas mask free, join the blinking ARP.' Je länger der Krieg dauerte, desto mehr gewöhnte man sich an die Bombardements von V1 und V2. In London gab es keinen Fliegeralarm mehr, es ging von früh bis abends."
Von Anfang an dachte man aber daran, nach dem Krieg wieder in die Tschechoslowakei zurück zu kehren. Walter Tschapek:
"Ich habe damals angefangen, wieder Tschechisch zu lernen. Wir waren vorbereitet, wieder nach Hause zu gehen. Dass die Ereignisse dann ganz anders gelaufen sind, steht auf einem anderen Blatt, aber wir waren Tschechoslowaken und haben uns auch als solche gefühlt."
Ihre Rückkehr allerdings haben sich die Tschapeks, Köhlers und viele andere, die auch nach England flüchten mussten, anders vorgestellt:
"Wir kamen zurück und in unserem Ort selbst hatten wir keine Probleme. Sie müssen sich vorstellen: Mein Vater war bei der Armee. Im September ist er demobilisiert worden, doch nachdem er demobilisiert war, galt er wieder als ein ganz gewöhnlicher Deutscher. Als solcher musste er zum Beispiel die Genehmigung beantragen, ein Radio besitzen zu dürfen. Wir mussten alle Antrag auf die Staatsbürgerschaft stellen, obwohl wir einen in England ausgestellten Pass hatten. Wenige Jahre zuvor hatte die tschechische Exilregierung darum gekämpft, dass wir nach den Bestimmungen von 1919 als Bürger der tschechoslowakischen Republik anerkannt werden."
Große Enttäuschung also. Konfliktsituationen im Alltag mehren sich: "Da stürmt einer, als ich gerade mit meinem Onkel und meinem Cousin Karten spielte, mit der Pistole rein und brüllt: 'Wenn das Licht in fünf Minuten nicht aus ist, schieße ich alle um.' An der Garderobe hing die Armeejacke meines Vaters und die passte mir. Ich habe sie angezogen und der Mann war so erschrocken, dass er sofort verschwand. Unser Bürgermeister war ein Tscheche, der schon vor 1938 dort war, dann aber weg musste und nach 1945 wieder zurückkam. Der kannte alle Leute im Dorf. Nach dem Zwischenfall bin ich zu ihm gegangen und der Mann musste den Ort sofort verlassen."
Mut musste man haben in der neuen Nachkriegszeit. Hier noch eine konkrete Geschichte:
"Da wurde ich zum Beispiel von einem Polizisten auf meinem Wege zur Lehre angehalten. Er fragte mich: ´Bist du Deutscher oder Tscheche?´ Nachdem ich sagte, ich sei ein Deutscher, sprach er zu mir: ´Wenn ich dich morgen ohne Binde sehe, gehst du in die Steinkohle.´ Ich war frech und sagte: 'Mein Vater war bei der tschechischen Armee in England und ich war bei der englischen Fliegerjugend. Was haben Sie während des Krieges gemacht? Wenn Sie mich noch einmal anhalten, rede ich mit meinen Leuten, und dann gehen Sie in die Steinkohle.'"
Fritz Köhler sieht die damalige Situation folgendermaßen:
"Diese Situation war nicht wegen der Regierung. Das waren Leute, die während des Krieges zu feige gewesen waren, irgendwas gegen Hitler zu machen. 1945 spielten sie auf einmal Partisanen."
Die Vertreibung der Sudetendeutschen hat begonnen, die Familien Tschapek und Köhler standen aber dank ihrer konsequenten Anti-Hitler-Haltung nicht auf der Liste. Sie haben sich aber trotzdem entschlossen, das Land zu verlassen. Und sie waren nicht allein. Noch einmal Fritz Köhler:
"Es gab Antifa-Ausschüsse und mein Vater hat da aktiv mitgemacht. Er hat einen ganzen Transport organisiert. Wir konnten in einem Viertelwaggon unsere Möbel ausführen. Vier Familien in einem Viehwaggon. 1946 sind wir auf diese Art und Weise aus dem Land raus gekommen."
Heute sagt er:
"Ich glaube, ich hätte dort auch bleiben können."