Mittelböhmen – schon vor 7000 Jahren ein beliebtes Siedlungsgebiet
Je weiter man in die Vergangenheit schaut, desto spärlicher werden die historischen Quellen. Umso größer ist die Freude, wenn ein Zufallsfund gelingt, mit dessen Hilfe Jahrhunderte zurückliegende Ereignisse rekonstruiert werden können. Bei noch älteren Epochen geht es meist nur noch um die Rekonstruktion von grundlegenden Lebensumständen. Ein Team tschechischer Archäologen hat nun in Mittelböhmen nicht nur einen, sondern gleich tausende Funde gemacht, die Aufschluss geben könnten, wie es sich auf dem Gebiet des heutigen Tschechiens vor Tausenden Jahren gelebt hat.
Zur Entlastung der Anwohner vom Verkehrslärm wird am südlichen Stadtrand von Kolín eine Umgehungsstraße gebaut. In der mittelböhmischen Stadt treffen sich die Landstraßen 38 und 12. Auch zwei wichtige Eisenbahntrassen kreuzen sich hier. Kolín ist ein regionaler Verkehrsknotenpunkt. Ansonsten fristet Kolín etwa 50 Kilometer östlich der Metropole Prag ein eher beschauliches Dasein. Vor etwa 7000 Jahren in der Jungsteinzeit jedoch scheint die Gegend um die 30.000-Einwohner-Stadt überregionale Bedeutung gehabt zu haben.
„Die heutige Stadt Kolín liegt an der Elbebiegung nach Norden. Es muss hier zahlreiche Furten über den Fluss gegeben haben, und es haben sich hier wichtige Handelswege gekreuzt. Seit der Steinzeit kreuzten sich hier Wege aus Südmähren, vom Balkan und aus Osteuropa. So kam es in diesem Gebiet zu einem Kulturaustausch und es fand offenbar ein reger Handel statt“, sagt Radka Šumberová vom Archäologischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften. Sie hat in den zurückliegenden zwei Jahren eine archäologische Grabung geleitet. Und zwar genau dort, wo jetzt Bagger und Planierraupen die Umgehungsstraße bauen. Es war die größte Grabung ihrer Art, die das Archäologische Institut je durchgeführt hat, wie Institutsleiter Luboš Jiráň betont:
„Wir hatten eine ungewöhnlich große Fläche und ungewöhnlich viel Zeit für ihre Erforschung. Wir haben zwar nur eine Rettungsgrabung durchgeführt, bevor die Umgehungsstraße das Gebiet aus archäologischer Sicht unzugänglich macht. Aber in vielerlei Hinsicht gleicht sie früheren systematischen Grabungen, bei denen große Flächen sehr lange und intensiv erforscht werden können.“
Die Untersuchung des etwa acht Kilometer langen und insgesamt etwa 40 Hektar großen Stück Landes, auf dem nun die Umgehungsstraße entsteht, begann zwar nicht erst mit dem ersten Spatenstich. Trotzdem sei der archäologische Wert des Geländes unterschätzt worden, gibt Grabungsleiterin Šumberová zu:
„Wir können natürlich nicht unter die Erde schauen. Wir haben Luftbild- und geophysikalische Untersuchungen und Oberfächensammlungen gemacht. Und die zeigten schon an, dass dort relativ viele Funde gemacht werden können. Die Ergebnisse übertrafen die Erwartungen aber bei weitem.“
Die Gesamtzahl der gefundenen Objekte beläuft sich auf etwa 7000. Doch der Erfolg der Grabung ergibt sich laut Šumberová aus einem anderen Grund:
„Es ist nicht einmal die hohe Zahl der Funde, die so bedeutend ist, sondern eher ihre Interpretation. Wir haben hier ein Gebiet vor uns, das offenbar seit der Urzeit sehr wichtig war für jede Kultur, für jede Gesellschaft, die hier ihre Spuren hinterlassen hat. Es wurde beinahe während der gesamten Urgeschichte genutzt, einige Stellen sogar bis ins frühe Mittelalter hinein. Das waren also keine monokulturellen Lokalitäten - wie wir das nennen - sondern polykulturelle. Die einzelnen Siedlungen und Grabstätten überlagern sich daher auf engem Raum in sehr hoher Dichte.“
Warum der Erfolg diesmal höher einzuschätzen ist, als bei früheren Grabungen, erklärt Šumberovás Kollege, Jan Frolík. Er koordiniert im Archäologischen Institut die Forschungen im Terrain:„Früher war es so, dass man bei Grabungen drei Hütten gefunden hat, aber es war nie klar, ob das drei von zehn oder drei von zwanzig waren. Hier haben wir aber komplette Siedlungen, komplette Grabanlagen, komplette Rondelle. Das lässt sich wesentlich besser und komplexer beurteilen.“
Die Jungsteinzeit beginnt für das Gebiet des heutigen Tschechien etwa 5500 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Aus der jüngeren Phase dieser Epoche stammen die ältesten Funde, die die Archäologen in Kolín gemacht haben. Besonders bedeutend sind vier Kreisgrabenanlagen, so genannte Rondelle. Angelegt wurden sie etwa 4700 bis 4500 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Das größte, am Südrand des erforschten Gebietes liegt leider schon jetzt zum Teil unter einer Straßenkreuzung. Aber auch wenn die Archäologen nur Teile des Rondells untersuchen konnten, es lieferte ihnen wertvolle Angaben über die Bautätigkeit in der Jungsteinzeit. Grabungsleiterin Radka Šumberová gibt einen Eindruck von den imposanten Ausmaßen der Anlage:
„Das Rondell hatte drei bis vier Meter tiefe Gräben. Ein System von vier konzentrischen Kreisgräben auf 60 Meter Breite umgrenzt eine Fläche mit dem Durchmesser von etwa 200 Meter. Das ist also eine riesige Fläche am Rand der Terrasse über der Flussbiegung der Elbe, also am vorteilhaftesten Platz in der Umgebung. Ein nur ein Meter schmaler und über 40 Meter langer Gang, der sich zum Fluss hin noch verjüngt, führt in das Rondell. Es war also ein schwerer Zugang in das Innere der Anlage.“Bis vor kurzem nahm man noch an, dass solche Rondelle nur vereinzelt vorkamen. In ganz Europa sind nur etwas mehr als 100 der jungsteinzeitlichen Bauten bekannt. Alleine in Kolín aber haben die Archäologen nun vier Rondelle gefunden.
„Die hohe Konzentration dieser ungewöhnlichen Objekte, von denen wir bis heute nicht wissen, ob sie militärischen, kultischen oder sonstigen Zwecken dienten, ist einzigartig. Es gibt zwar auch in Deutschland Orte, an denen sich drei, vier Rondelle befinden, aber das ist keineswegs üblich.“
Die Archäologen fanden heraus, dass die vier Rondelle in Kolín über einen sehr langen Zeitraum verwendet wurden, bis in die Bronzezeit im zweiten vorchristlichen Jahrtausend. Immer wieder wurden sie gesäubert und erneuert. Ob sie gleichzeitig in Benutzung waren, müssen die Untersuchungen der sie umgebenden Bauten, Gräber und Tausender dort gefundener Gegenstände ergeben. Und die sind oft schon für sich genommen Attraktionen. Radka Šumberová nennt einige besonders wertvolle Funde:
„Hier haben wir die Scherbe einer Amphore. Sie stellt ein menschliches Gesicht dar. Das ist für jungsteinzeitliches Geschirr wirklich hervorragend herausgearbeitet. Man kann das Profil eines Menschen sehen. Das ist tatsächlich ein einzigartiger Fund, der uns nahe legt, wie die Leute damals ausgesehen haben. Aus der jüngeren Eisenzeit, als hier schon Kelten siedelten, haben wir eine ganze Reihe wertvoller Funde aus Metall gemacht, denn die Kelten waren schon sehr gute Handwerker. Die Struktur ihrer landwirtschaftlichen Geräte, zumindest der Handwerkzeuge hat sich eigentlich bis heute nicht wesentlich geändert. Wir haben auch Scherben von Glasschmuck gefunden, von gläsernen Armbändern und Perlen.“Und das ist nur ein winziger Bruchteil dessen, was Šumberová und ihr Team aus der Erde geholt haben. Um die zwanzig Siedlungen mit Wohnhäusern, Öfen, Vorratsgruben und so weiter und etwa 15 Grabanlagen mit insgesamt 150 Gräbern von der Jungsteinzeit bis ins neunte Jahrhundert nach Christus befanden sich auf dem durchsuchten Gebiet. Die eigentliche Grabung endete im November 2009. Auch das Waschen und Archivieren der Funde sowie die grundlegenden Laboranalysen sind schon fast abgeschlossen. Nun folgt die wissenschaftliche Auswertung. Angesichts der Menge des Materials eine fast noch größere Aufgabe wie die Grabung selbst, sagt Archäologe Jan Frolík:
„Jetzt liegt eine andere riesige Aufgabe vor uns: Wir wollen nicht, dass es auch diesmal so läuft wie bei anderen großen Ausgrabungen in der Vergangenheit, als nach Beendigung der eigentlichen Grabungen Gras über die Sache gewachsen ist, und die Öffentlichkeit nichts mehr von den Ergebnissen gehört hat. Wir wollen der Fachöffentlichkeit und auch dann den Laien einen Überblick über den Fortgang der Arbeiten geben und hin und wieder einige Kostproben zeigen. Aber gesamte Arbeit wird noch Jahre dauern.“Einen ersten Zwischenstand will man im Laufe des Jahres 2011 in einer Ausstellung im Regionalmuseum von Kolín präsentieren.