Die kommunistische Vergangenheit in der Rechtssprechung der Gegenwart: Urteil im Prozess gegen Jakes und Lenart
Ende September ist in Prag ein Gerichtsprozess zu Ende gegangen, der trotz - oder gerade wegen - seiner weit in die Vergangenheit zurückreichenden Vorgeschichte im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stand, und dessen Verlauf vielfältige Reaktionen auslöste: Milous Jakes und Jozef Lenart, zwei ehemals ranghohe kommunistische Funktionäre, mussten sich im Zusammenhang mit dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei vom August 1968 vor Gericht verantworten. Der Staatsanwalt hatte den beiden vorgeworfen, sich damals aktiv an der Besetzung beteiligt zu haben, was letztlich Beihilfe zum versuchten Vaterlandsverrat bedeuten würde. Zu Verlauf und Ausgang des Prozesses, und nicht zuletzt zu den diversen theoretischen Aspekten, die in seinem Umfeld diskutiert wurden, hören Sie mehr in der heutigen Ausgabe unseres Magazins "Schauplatz", die Gerald Schubert für Sie gestaltet hat:
Vierunddreißig Jahre, oder auch nur dreizehn Jahre: Im Leben eines Menschen mag dies eine lange Zeitspanne sein. Was jedoch die Aufarbeitung historischer Ereignisse in einer Gesellschaft betrifft, so handelt es sich dabei oft nur um eine sehr kurze Phase, während der manche Diskussionsprozesse mitunter noch nicht einmal richtig begonnen werden konnten.
In Tschechien ist es erst seit 1989 möglich, Fragen nach der eigenen Vergangenheit öffentlich und auch kontrovers zu thematisieren. Dies geschieht in Diskussionen zwischen politischen Parteien, in den Medien, und manchmal, wie nun im Fall Jakes und Lenart, auch vor Gericht.
Rekapitulieren wir kurz die wichtigsten Fakten rund um den Prozess: Im August des Jahres 1968 marschierten Truppen von fünf Staaten des Warschauer Pakts in Prag ein. Die Führung der Sowjetunion hatte damals ihren Einfluss auf die Tschechoslowakei durch die Reformbewegung des "Prager Frühlings" gefährdet gesehen und leitete mit Gewalt jene Entwicklung ein, die dann im offiziellen Sprachgebrauch als "Normalisierung" bezeichnet wurde. Jozef Lenart, der spätere Vorsitzende der tschechoslowakischen Regierung, war zu dieser Zeit in der KPTsch, der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, für außenpolitische Agenden zuständig. Und Milous Jakes, er wurde noch Ende der achtziger Jahre Generalsekretär der Partei, war im Jahr 1968 ein eher unbedeutender Funktionär. Beide Männer, soviel steht fest, haben unmittelbar nach dem Einmarsch an einer Sitzung in der sowjetischen Botschaft in Prag teilgenommen, in der über die Bildung einer sogenannten Arbeiter- und Bauernregierung verhandelt wurde. Diese hätte, falls orthodoxe Kommunisten in den vorhandenen Strukturen nicht an Einfluss gewinnen würden, die Moskauer Interessen in Prag direkt durchsetzen und den Einmarsch der Truppen legalisieren sollen. Im Anschluss an diese Unterredung, bei der auch bereits über die Aufteilung künftiger Regierungsämter gesprochen worden sein soll, suchten Jakes und Lenart dann den damaligen tschechoslowakischen Präsidenten Ludvik Svoboda auf. Ob sie diesen nur über den Verlauf der Verhandlungen mit der sowjetischen Seite informierten, ob sie ihm zur Kooperation mit Moskau geraten haben, oder ob sie Svoboda in diesem Sinn gar unter Druck setzten, das versuchte das Gericht nun herauszufinden, um die Rolle von Jakes und Lenart im August 1968 zu klären. Ich habe mit Pavel Kolar, er ist Historiker am Institut für allgemeine Geschichte an der Karlsuniversität Prag, über den Beitrag gesprochen, den akademische Institutionen in diesem Verfahren geleistet haben.
"Auf welche Weise hat denn Ihrer Meinung nach die Geschichtswissenschaft überhaupt eine Rolle bei der Aufarbeitung der Materialien für den Prozess gespielt?"
"Soweit ich weiß, hat das ziemlich renommierte Institut für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften in Prag ein Gutachten verfasst, in dem sich die Wissenschaftler im Sinne einer Schuld der beiden geäußert haben. Und das war für mich eine Überraschung, weil bisher, soweit ich weiß, die akademischen Institutionen zu diesen Fragen nicht so direkt Stellung bezogen haben. Meines Erachtens ist es jedoch eine Sache, eine Expertise zu machen, in der sich Historiker zum Beispiel zu bestimmten Quellen oder bestimmten Ereignissen äußern, eine ganz andere Sache ist aber eine Beurteilung, also im Sinne eines wirklichen Urteils. Und das war für mich eine Überraschung, dass eine akademische Institution sich in diesem Prozess zu Schuld oder Unschuld von Jakes und Lenart äußert."
Der Aspekt, den Pavel Kolar hier anspricht, beschreibt nicht nur ein grundsätzliches Problem bei der Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern erhält im konkreten Fall durch die relativ unsichere Beweislage noch zusätzliche Brisanz. Es gibt zwar einige schriftliche Materialien über die Ereignisse, die meisten derer, die im Prozess aussagen könnten, sind jedoch bereits verstorben. Für Jan Liegert, einen der Verteidiger, schien die Sache jedoch ohnehin von Anfang an klar zu sein, und zwar aus prinzipiellen formalrechtlichen Erwägungen:
"Keine wie auch immer geartete Verhandlung mit dem Präsidenten der Republik, der das Recht hatte, Mitglieder der Regierung und auch den Vorsitzenden der Regierung zu ernennen und auch wieder abzuberufen, und der gemäß der damaligen Verfassung auch das Recht hatte, der Regierung selbst vorzusitzen, konnte die Anzeichen irgendeiner Straftat aufweisen. Denn er, also der Präsident, war das oberste verfassungsmäßige Organ."
Um welche Straftat handelte es sich konkret? Der Staatsanwalt war zunächst davon ausgegangen, dass Jakes und Lenart mit ihrem Verhalten im August 1968 dem Einmarsch fremder Truppen - mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen - den Weg geebnet hätten. Daher lautete die Anklage auf versuchten Vaterlandsverrat. Darauf stehen nach tschechischem Recht zwölf bis fünfzehn Jahre Haft. Wenige Tage vor der Verkündung des Urteils änderte der Staatsanwalt jedoch seine Strategie: Angesichts der Faktenlage plädierte er nur noch auf Beihilfe zum versuchten Vaterlandsverrat, was das Strafmaß auf bis zu fünf Jahre senken würde. Die Verteidigung erblickte darin aber keineswegs ein Entgegenkommen, sondern viel mehr einen Trick, die eigene Strategie aus den Angeln zu heben, und so verliefen die letzten Prozesstage dann auch in entsprechend aufgeregter Atmosphäre.
Am 23. September schließlich wurde das Urteil verkündet: Es lautete auf Freispruch. Die Richterin führte in ihrer Urteilsbegründung unter anderem aus:
"Angesichts dessen, dass das Vorgehen der Angeklagten nach dem Gesetz beurteilt werden muss, das zum Zeitpunkt der Tat gültig war, kam das Gericht zu dem Schluss, dass der Tatbestand des Sturzes der Republik durch das Verhalten der Angeklagten nicht erfüllt wird. Und zwar im Hinblick darauf, dass das grundlegende Anzeichen eines solchen Tatbestandes der Versuch des Sturzes des sozialistischen Systems wäre."
Gerade dies aber zwei ehemaligen kommunistischen Funktionären vorzuwerfen, sei, so die Richterin, absurd. Und für die Begünstigung einer fremden Macht auf tschechoslowakischem Gebiet gebe es eben nicht genug Beweise. Jan Srb vom Amt für Dokumentation und Untersuchung der Verbrechen des Kommunismus sieht dies jedoch anders:
"Die meisten der direkt Beteiligten, der Zeugen oder der potentiellen Angeklagten leben nicht mehr, oder sind keine Staatsangehörigen dieser Republik. Also es stimmt schon, dass teilweise ein Beweisnotstand bestehen könnte. Aber dennoch gab es genügend Material, das wir zusammentragen konnten."
Welche Bedeutung haben derartige Prozesse für die tschechische Gesellschaft heute überhaupt? Der Historiker Pavel Kolar ist der Ansicht, dass derlei Verfahren in der Öffentlichkeit eher als Posse wahrgenommen werden, und dass das tatsächliche Interesse an den dahinter liegenden Zusammenhängen bei vielen Menschen eher gering ist. Die Schnittstelle zur Erforschung jener Zusammenhänge verläuft dabei in der öffentlichen Wahrnehmung irgendwo zwischen Recht und Geschichte, und sie ist generell nicht eindeutig zu ziehen:
"Versuchen wir kurz, von der konkreten tschechischen Geschichte zu abstrahieren: Können Sie aus der Sicht des Historikers ganz allgemein sagen, wie Sie den Zusammenhang zwischen historischer und juristischer Wahrheitsfindung beurteilen? Offensichtlich gibt es hier ja zwei einander entgegengesetzte Konzepte vom Aufspüren objektiver Realitäten."
"Wir hatten in den letzten zwanzig Jahren eine sehr intensive Debatte über die Objektivität der Geschichtswissenschaft. Es gibt innerhalb des Faches zu dieser Frage sehr unterschiedliche Positionen. Es gibt radikale Zweifel an Objektivität auf der einen Seite, es gibt moderate Ansichten, und es gibt auch traditionelle, positivistische Ansichten, die wirklich an die absolute Wahrheit der Geschichte glauben. Aber ich würde sagen, der Mainstream der Historiker ist heute der Meinung, dass es mit der Objektivität der Geschichte sehr problematisch ist. Und deshalb ist eine Übereinstimmung zwischen der Geschichtswissenschaft auf der einen Seite und einer juristischen, also positivistischen Ansicht auf der anderen Seite eben sehr schwierig. Damit komme ich zu dem Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte zurück: Es ist schon angesichts der methodologischen Lage der Geschichtswissenschaft nicht mehr möglich, sich so klar zu äußern. Und dies erst recht zu den moralischen Fragen von Schuld und Unschuld."
Trotz aller Zweifel in den jeweils konkreten Fällen herrscht jedoch bei Teilen der tschechischen Öffentlichkeit allmählich auch massiver Unmut darüber, dass von den Menschen, denen im Zusammenhang mit dem früheren kommunistischen Regime Verbrechen vorgeworfen worden waren, noch kaum jemand tatsächlich verurteilt wurde. Der Staatsanwalt hat jedenfalls unmittelbar nach der Urteilsverkündung Berufung eingelegt. Die Diskussion wird also wohl noch auf absehbare Zeit weiter zu verfolgen sein.