Die Studenten und die "Samtene Revolution" von 1989

Die Studenten und die kommunistische Macht in den böhmischen Ländern 1968-89

Die tschechoslowakischen Studenten waren es, die die "Samtene Revolution" ins Rollen gebracht haben, mit ihrer Demonstration am 17. November 1989 haben Sie weltweit Aufsehen erregt. Wie kam es aber, dass in der Tschechoslowakei ausgerechnet die Studenten in diesen Novembertagen eine Schlüsselrolle spielten, während es in den übrigen sozialistischen Ländern eher andere gesellschaftliche Gruppen waren - in Polen etwa die Werftarbeiter, in der DDR einzelne Kirchenkreise? Dieser Frage ist der Historiker Milan Otahal in einer gerade veröffentlichten Publikation nachgegangen, die zugleich die erste ausführlichere Beschäftigung mit diesem Thema hierzulande darstellt. Mehr dazu von Silja Schultheis.

Milan Otahal stellt sich in seiner jetzt erschienenen Publikation "Die Studenten und die kommunistische Macht in den böhmischen Ländern 1968-1989" nicht zum ersten Mal die Frage, von wem in der Tschechoslowakei die entscheidenden Impulse für die politische Wende von 1989 ausgegangen sind. Bereits 1994 veröffentlichte er ein Buch über die Rolle der Opposition in der Epoche zwischen "Prager Frühling" und "Samtener Revolution" und widmete sich damit jenem Thema, das für die Historiker nach der Wende zuerst auf der Tagesordnung stand. Milan Otáhal:

"Das erste Interesse der Historiker galt nach 1989 verständlicherweise vor allem den Dissidenten. Von ihnen wusste man, dass es sie gab, sie waren bekannt. Weitaus weniger Kenntnisse hatte man über die Studenten, im ausländischen Rundfunk sprach man von ihnen nur sehr sporadisch, während etwa Vaclav Havel ständig in den Nachrichten vorkam."

Milan Otahal  (Foto: CTK)
Bei der weiteren Beschäftigung mit der Zeit der sog. Normalisierung in der Tschechoslowakei gelangte der Autor, der die politische Unterdrückung dieser Zeit am eigenen Leib zu spüren bekam, zu der Erkenntnis, dass auch andere gesellschaftliche Gruppe entscheidend zum Sturz des Systems beitrugen, allen voran die Studenten. Sie waren bereits in der Vergangenheit in historischen Schlüsselsituationen wiederholt in den Vordergrund getreten. Der Autor erklärt dies u.a. damit, dass die Intelligenz für die Gründung des modernen tschechoslowakischen Staates seit dem Ende des 18. Jh. jene entscheidende Rolle spielte, die in anderen mitteleuropäischen Staaten wie Polen oder Ungarn eher traditionellen Gesellschaftsschichten wie dem Adel zufiel.

In das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit traten die tschechoslowakischen Studenten dann 1939, als die Nationalsozialisten beim gewaltsamen Vorgehen gegen Demonstranten u.a. den Studenten Jan Opletal ermordeten. Zum eigenständigen politischen Subjekt wurden die Studenten in der Tschechoslowakei nach Otahal 1968. Im Gegensatz zur Studentenbewegung in Westeuropa forderten sie jedoch keinen radikalen Systemwechsel, sondern unterstützten die Bemühungen von Alexander Dubcek um einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", auch nach der sowjetischen Okkupation. Nach Jahren der Ernüchterung und Anpassung an die Gegebenheiten während der Zeit der sog. Normalisierung unter dem Präsidenten Gustav Husak schöpften die Studenten in der Tschechoslowakei Mitte der 80er Jahre nach dem Amtsantritt von Michail Gorbacev neue Hoffnungen und wurden schließlich zur treibenden Kraft der "Samtenen Revolution". Von den Dissidentenkreisen seien die Studenten damals komplett unterschätzt worden, meint Martin Mejstrik, einer der Hauptakteure der damaligen Studentenbewegung:

"Die Dissidenten hatten die Studenten damals gar nicht auf der Rechnung und dachten, wer studiert müsse mit dem kommunistischen Regime kollaborieren, sonst hätte er keinen Platz an der Hochschule bekommen. Durch die gut organisierte Demonstration vom 17. November haben wir Studenten aber bewiesen, dass wir uns schon seit längerem auf dieses politische Engagement vorbereitet hatten, mindestens zwei Jahre."

Das politische Engagement der Studenten war jedoch nicht von langer Dauer, die meisten von ihnen zogen sich nach dem erfolgreichen Umsturz schnell wieder aus der Politik zurück. Mit gutem Grund, findet Milan Otahal:

17. November 1989
"Ich denke, die Studenten haben große politische Weisheit bewiesen, indem sie begriffen, dass mit der Gründung des Bürgerforums am 19. November 1989 und der Wahl von Vaclav Havel zum Präsidenten Ende des Jahres ihre Rolle als selbständiges politisches Objekt zu Ende war. Sie blieben dann nur vereinzelt in der Politik und mit der Gründung des Bürgerforums traten die ehemaligen Dissidenten in den Vordergrund, die durch ihr jahrelanges Engagement in der Opposition eine große Autorität in der Bevölkerung hatten."

Milan Otahal hat sich bei seiner Beschäftigung mit der tschechoslowakischen Studentenbewegung der Jahre 1968-89 nicht nur auf Archivmaterial, sondern auch auf eine ganze Reihe persönlicher Gespräche mit den ehemaligen Akteuren der Studentenbewegung gestützt. Einer der Hauptprotagonisten des Buches ist Martin Mejstrik, damals maßgeblicher Akteur der Studentenbewegung. Mejstrik setzte sich bereits lange vor 1989, u.a. durch Artikel in dem oppositionellen Blatt Cesky denik für mehr Freiheiten ein. In den 90er Jahren war Mejstrik mehrere Jahre als Journalist tätig, zog sich dann bewusst aus dem öffentlichen Leben zurück, und forderte 1999, zehn Jahre nach der 'Samtenen Revolution' als Mitautor des Manifestes "Danke, ihr könnt gehen" die führenden Politiker aus Regierung und Opposition öffentlich zum Rücktritt auf. Im vergangenen Herbst kandidierte Mejstrik erfolgreich für einen Sitz in der oberen Parlamentskammer und ist seitdem Politiker. Wie fühlt sich Mejstrik heute, 14 Jahre später, wenn er ein Buch über die Studentenbewegung in den Händen hält, dessen Hauptprotagonist er damals war?

17. November 1989
"Ich habe mich sehr gefreut, dass sich überhaupt jemand für dieses Thema interessiert. Denn lange Zeit haben sich die Historiker mit den Studenten gar nicht beschäftigt, als viel wichtiger und interessanter erschien ihnen die Rolle der Dissidenten, der Charta 77, des Bürgerforums. Ansonsten, was soll ich dazu sagen? Es ist bereits Geschichte, und wir sind offensichtlich zu einem Teil dieser Geschichte geworden. Ob das gut oder schlecht ist, es ist einfach so."

Zugleich jedoch warnt Mejstrik vor falschen Heldenbildern und relativiert die Rolle der damaligen Studenten:

"Aber wir sollten uns auch keine größeren Verdienste zuschreiben, als wir tatsächlich hatten. Denn der Umsturz in der Tschechoslowakei hätte auch ohne uns stattgefunden. Die Charta 77 hatte für den 10. Dezember, den Tag der Menschenrechte, eine größere Aktion vorbereitet und es war nur eine Frage der Zeit, wann die Unruhen hier ausbrechen und sich die Opposition formiert."

Milan Otáhal: Studenti a komunistická moc v ceskych zemich 1968-1989. Praha, nakladatelstvi Dokoran 2003.

(Milan Otáhal: Die Studenten und die kommunistische Macht in den böhmischen Ländern 1968-89. Prag, Verlag Dokoran 2003).