Radiobrücke zwischen Tschechischem und Österreichischem Rundfunk: Der EU-Beitritt Tschechiens
Am 1. Dezember fanden sich in zwei Radiostudios in zwei verschiedenen Städten insgesamt sechs Personen ein, um gemeinsam eine nicht ganz alltägliche Sendung zu gestalten: Eine sogenannte Radiobrücke wurde aufgebaut; über ISDN-Leitung waren beide Studios miteinander verbunden, um für die Hörer des Tschechischen Rundfunks und des Österreichischen Rundfunks in zwei Sprachen über den Beitritt Tschechiens zur EU zu diskutieren. In Wien saß, flankiert von einem Übersetzer und einem Moderator, der Historiker und ORF-Mitarbeiter Peter Lachnit. Und in Prag die Redakteure Ivan Stern und Jan Sedmidubsky vom Sechsten Programm des Tschechischen Rundfunks sowie unser Kollege Gerald Schubert, die auf die Fragen aus Wien zu antworten versuchten. Gerald Schubert hat für den nun folgenden Schauplatz eine Zusammenfassung der einstündigen Sendung gestaltet:
"Der grundlegende Unterschied besteht wohl darin, dass der November 1989 eine Umwälzung war, nach der alle wussten, dass sich nun riesige Möglichkeiten auftun. Aber von der praktischen Seite dieser Möglichkeiten hatte man eigentlich keine Ahnung. Alles war ein riesengroßes, weites Feld. Ein Dschungel, in den sich manche sehr gerne hineinstürzten, dessen Tücken aber kaum jemand kannte."
Und Redakteur Ivan Stern fügte hinzu:
"Schon damals im Jahr 1990 wurden die ersten freien Wahlen unter dem Motto 'Zurück nach Europa!' abgehalten. Die Bürgerbewegung, die diese Wahlen gewonnen hat, hat damit gemeint: Zurück nach Westeuropa, also zurück dorthin, wo wir hingehören - nicht nur durch unsere geographische Lage, sondern auch durch unsere Kultur, durch die gesamte Ausrichtung unserer Zivilisation. Das heißt, unser Versuch, nach Europa zurückzukehren und dies durch den Beitritt zur EU auch entsprechend zu institutionalisieren, geht bereits auf diesen Augenblick zurück und war seither immer unser grundlegendes Ziel."
Was jedoch nun die praktische Umsetzung dieser Integration betrifft, so liegen nun die Mühen der Ebene vor allen Beteiligten. Denn - darin waren sich eigentlich alle Diskussionsteilnehmer einig - am ersten Mai nächsten Jahres, dem jetzt schon als historisch bezeichneten Erweiterungsdatum, wird sich vorerst nicht allzu viel ändern. Peter Lachnit, Historiker und Mitarbeiter des Österreichischen Rundfunks:
"Ich glaube, das Interessante an der EU ist, dass es zwar historisch ein riesiges Projekt ist, das aber relativ unspektakulär daherkommt. Ein riesiges Projekt, das aber jederzeit auch scheitern kann. Es ist unklar, ob am Ende so etwas stehen wird wie die Vereinigten Staaten von Europa, nach dem Muster der USA, oder eine Rückkehr zur Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts. Diese Frage stellt sich immer wieder, jetzt bei der Ausarbeitung der Verfassung, bei der Herausarbeitung einer neuen Struktur für Europa. Wenn man sich historische Analogien ansieht, so kann man zum Beispiel an das Jahr 1790 erinnern. Die Vereinigten Staaten haben schon existiert, und es sind aus allen, damals noch wenigen Staaten Delegierte nach Philadelphia gekommen, die darüber beraten sollten, wie die Verfassung dieser Vereinigten Staaten aussehen soll. Da gab es auch ganz verschiedene Richtungen. Die Einen haben gesagt, das soll nur eine ganz lose Föderation von Staaten sein, die bestenfalls durch einen symbolischen Repräsentanten vereint werden, die Anderen haben gesagt, das soll ein starker Staat werden, dem ein starker Präsident vorsteht. Heute scheint es uns selbstverständlich, dass daraus dann die USA wurden. In einem ähnlichen Stadium sind wir jetzt in der EU, und es ist ganz unklar, was daraus werden wird. Und zur Frage, was sich ändern wird: Ich glaube, es wird sich in den ersten Jahren auf großer Ebene relativ wenig ändern. Man wird auf kleiner Ebene einige Dinge sehen. Neben den nationalen Fahnen wird immer auch eine EU-Fahne sein müssen. Aber Tschechien wird am Anfang nicht einmal in der Euro-Zone sein, also es wird kein gemeinsames Geld geben, Tschechien wird nicht in der Schengen-Zone sein, also auch die Grenzkontrollen werden noch nicht fallen. Also es ist ein Projekt, das lange dauern und das sich auch in Tschechien erst Schritt für Schritt entwickeln wird."Sind die Tschechen nun besonders euroskeptisch, wie es manchmal behauptet wird? Oder setzen sie im Gegenteil ganz besonders große Hoffnungen in ihre Zukunft in Europa? Jan Sedmidubsky antwortet mit einem Vergleich mit Österreichs Beitritt im Jahre 1995:
"Interessant ist hier auch die österreichische Erfahrung mit euroskeptischen Haltungen. Wir haben bereits über die damalige Haltung der Grünen und der Freiheitlichen gesprochen. Bei uns in Tschechien hingegen treten eigentlich sowohl Euroskeptiker als auch Eurooptimisten in gewisser Weise als Eurorealisten auf. Denn einer der Hauptslogans hier lautet: Wir haben keine andere Möglichkeit. Es ist dies eine historische Chance und gleichzeitig eine historische Notwendigkeit."
Was allerdings die Spitzenpolitiker und ihre politische Rhetorik betrifft, so gibt es in Tschechien ja einen recht klar gezogenen Graben. Da ist einerseits der sozialdemokratische Premierminister Vladimir Spidla, der nicht nur ein klarer Befürworter des EU-Beitritts, sondern auch einer der europäischen Integration überhaupt ist - und zwar auch in ihrer politischen Dimension. Und andererseits gibt es da den wirtschaftliberalen Ökonomieprofessor und jetzigen Präsidenten Vaclav Klaus, der zum Beispiel vor dem EU-Referendum im Juni keine Wahlempfehlung abgegeben hat und in ganz Europa für seinen unüberhörbaren Euroskeptizismus bekannt ist. Dazu Peter Lachnit, Historiker und Mitarbeiter des ORF:
"Weil Sie vorhin Vaclav Klaus erwähnt haben: Der ist ja in Österreich zum ersten Mal wirklich aufgefallen durch seinen Ausspruch, dass er nur eine Marktwirtschaft kennt, und keine Marktwirtschaft mit Attributen, wie etwa soziale Marktwirtschaft. Das ist etwas, was ein bisschen in die Kerbe stößt, dass die wirtschaftlichen Fragen und die wirtschaftlichen Vorstellungen der osteuropäischen Staaten, auch Tschechiens, sich möglicherweise unterscheiden von manchen in Westeuropa, die viel stärkeren Wert auf den Sozialstaat legen. Meine Frage ist: Wieso ist Vaclav Klaus nicht begeistert von der EU? Ein Projekt, das europaweit nur die Wirtschaftsfreiheiten durchsetzt, Handel-, Waren- und Güterfreiheiten, aber nicht zum Beispiel einen europäischen Sozialstaat vorsieht, der immer gescheitert ist, hauptsächlich am Einspruch von England, so ein Projekt muss doch für jemanden der sagt, er sei für eine Marktwirtschaft ohne Attribute, nahezu das beste Modell sein."
Dazu Ivan Stern, Redakteur des Tschechischen Rundfunks:
"Einer Sache muss man sich bewusst sein: Bei uns kam es zu einer gewissen Verschiebung von Bedeutungen. Denn das politische Konzept der EU ist bei uns nicht so bekannt. Zum Beispiel ist wenig bekannt, dass die soziale Marktwirtschaft ein christdemokratisches und kein sozialistisches Konzept ist. Sogar der Begriff 'Sozialstaat' ist ein christlichsozialer - und kein sozialdemokratischer. Wenn aber bei uns jemand den Begriff 'sozial' hört, dann denkt er meist sofort an 'sozialistisch'. Und weil die EU ihrem politischen Konzept zufolge christdemokratisch ist und das Wort 'sozial' daher darin eine Rolle spielt, ist dieses Konzept für eine Reihe unserer Politiker sozialistisch. Und das ist ein riesiger Irrtum. Noch etwas möchte ich zum Begriff 'Sozialstaat' sagen, und zwar im Zusammenhang mit Präsident Vaclav Klaus und Premierminister Spidla. Beide Herren nämlich haben eines begriffen: Der Sozialstaat, wie er in den 50er und 60er Jahren begründet wurde, bringt heute auch eine Reihe von Problemen hervor, die sich etwa in Staatsverschuldung oder in der Notwenigkeit von Pensionsreformen äußern. Und beide Herren, also Klaus und Spidla, stimmen in einer Sache überein: Nämlich dass diese Probleme, die nicht nur wir, sondern auch westeuropäische Länder haben, keine politischen Probleme im Sinne von links oder rechts sind, sondern zivilisatorisch-kulturelle Probleme. Und dass eine Lösung dieser Probleme eigentlich nirgendwo gesucht werden kann als quer durch das politische Spektrum."