Volkskunst früher und jetzt
Nach der Weihnachtsbetrachtung von und mit Robert Rehak, laden wir Sie, liebe Freunde, zu einem Exkurs in eine sehr malerische, vor allem aber höchst interessante und - kulturell und historisch gesehen - auch autonome Region Tschechiens ein, und zwar nach Südmähren. Ihre Begleiterin ist Jitka Mladkova, - nicht zuletzt aber auch die südmährische Musik:
Mit dieser flotten Melodie sind wir mitten drin, nämlich in Südmähren! Es ist gerade die Musik, die aus dieser Region Tschechiens kaum wegzudenken ist. Neben gutem Wein, versteht sich, aber auch dieser ist mit der Musik fest verbunden. Schließlich gibt es eine ganze Menge dem Wein gewidmete Trinklieder, die eben aus dieser Ecke unseres Landes stammen und weit über die Region hinaus bekannt sind. Doch nicht nur auf Musik und Wein sollte man das Bild Südmährens reduzieren. Denn zu diesem gehört auch die landschaftliche Mannigfaltigkeit - fruchtbare Ebenen und traditionelle Landwirtschaftsproduktion, große und kleine Städte mit mehr oder weniger prosperierender Industrie, Hügel und Berge mit ausgedehnten Wäldern, aber auch, und dies wohl vor allem, die außergewöhnliche Mannigfaltigkeit der Volkskunsttraditionen. Da gibt es Unterschiede nicht nur zwischen einzelnen Mikroregionen, sondern nicht selten auch zwischen benachbarten Orten. Besonders alte und reiche Traditionen lassen sich in den Bereichen der Volkskunst, namentlich der Bräuche, der Architektur und nicht zuletzt auch der Trachten aufspüren.
Kunterbuntes allerlei - das ist wohl das richtige Wort für die traditionelle Bekleidung der Dorfbevölkerung Südmährens, die zum Großteil erst nach dem 2. Weltkrieg zu verschwinden begann. Ganz verschwunden allerdings sind die Volkstrachten in Südmähren auch heute noch nicht. Im Laufe des Jahres gibt es immer noch genug Gelegenheiten, sie aus dem Schrank herauszukramen und anzuziehen, z.B. bei traditionellen Volksfesten oder ortsgebundenen Feierlichkeiten, aber auch bei unzähligen Kulturveranstaltungen, die die Pflege der Volkskunst in allen ihren Gattungen wie Musik, Tanz, Gesang oder auch Kunstgewerbe als Ziel verfolgen. Obwohl all dies auch in der Zeit des kommunistischen Regimes gepflegt, und zum Teil sogar in dessen Dienst gestellt und missbraucht wurde, kann man heutzutage von einer Renaissance der traditionellen Volkskunst sprechen. Diese findet nicht nur in der außerordentlich hohen Zahl verschiedener Folkloreensembles ihren Ausdruck. Sich eine Volkstracht anfertigen zu lassen, ist heute bei vielen jungen Leuten auf dem Lande sogar "in". Dennoch: aus dem Alltag sind die Volkstrachten längst verschwunden. Ob sie, bzw. Produkte des traditionellen Handwerks, jemals in der Vergangenheit einen Einfluss auf die - sagen wir - zivile städtische bzw. modische Kleidung und Lebenskultur hatten, das fragte ich eine Expertin - die Ethnografin und Museumsleiterin in der südmährischen Kurstadt Luhacovice, Blanka Petrakova:
"Ganz bestimmt. Der Einfluss wiederholte sich sogar in mehreren Wellen. Es waren meistens Momente der so genannten nationalen Wiedergeburt, wie es in den Geschichtsbüchern heißt. Dabei ging es bei weitem nicht nur um die Periode um die Mitte des 19.Jahrhunderts, sondern z.B. auch um die Zeit der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik oder die des 2.Weltkrieges, als große Nachfrage bestand nach allem, was die Zugehörigkeit zur Nation symbolisierte. So hat man z.B. den Kindern im Schulunterricht beigebracht, wie das eine oder das andere Element der traditionellen Volkskunst in der Mode oder in der Ausstattung des Haushalts anzuwenden ist. Das war in den 30er und 40er Jahren des 20.Jahrhunderts. Und dann wieder in den 70er Jahren, als verschiedene Elemente der traditionellen Volkskultur in zahlreichen Produkten spezialisierter Geschäfte und damit auch im alltäglichen Leben, darunter auch in der Bekleidung, ihre Verwendung fanden."
Wie bereits angedeutet, lebte die Volkskunst vor dem Wendejahr 1989 jahrzehntelang teilweise ihr eigenes Leben, teilweise aber passte sie dem herrschenden Regime durchaus ins Konzept und wurde daher von ihm als Instrument für verschiedene Zwecke genutzt. Blanka Petrakova sagt dazu:
"Aus der Folklore als Unterhaltungsform, zu der Musik, Tanz und Gesang gehörten, konnten - glaube ich - viele Menschen in der Zeit des früheren Regimes eine Menge Aufmunterung für das Leben schöpfen. Es war eine Möglichkeit, wie man überleben konnte. Das kommunistische Regime hat zwar auf seine Art und Weise eine neue Existenz der Folklore eigentlich stark gefördert. Es unterstützte die Entstehung zahlreicher Folkloreensembles, Folklorevereinigungen und Festivals. Auf der anderen Seite aber war hier auch eine stark ausgeprägte Tendenz, die überlebenden Traditionen aus ihrem natürlichen Ambiente auszugrenzen. Vor allem jene Traditionen, die mit dem Kirchenkalender bzw. Kirchenjahr fest verbunden waren, wurden vom Regime erbarmungslos unterdrückt, bis es gelang, viele von ihnen an verschiedenen Orten buchstäblich zu auszulöschen."
Die Folklore wird hierzulande - ich wage es zu sagen - nach wie vor massiv gepflegt. Ist dies gleichzeitig der Ausdruck einer allgemein positiven Beziehung zu alten Traditionen?
"Das ist sehr relativ. Sie kommen heute aus Prag nach Südmähren und haben den Eindruck, dass hier die Leute massenhaft die alten Traditionen pflegen. Viele Stadtbewohner glauben, dass es auf dem Lande noch Gang und Gäbe ist, eine Tracht zu tragen, oder dass man nicht in die Disco geht und dafür bei der Arbeit Volkslieder singt. So ist es aber nicht. Die Folklore und das Verhältnis zur Folklore hat sich im Laufe der Zeit verändert. Auch auf dem Lande muss man die Beziehung zur Volkskunst suchen und darin viel Zeit, viel Interesse und Begeisterung investieren, um vieles zu lernen und zu erfahren. Diejenigen, die das tun, wissen aber, dass es sich lohnt und das eigene Leben wesentlich bereichert."
Als das größte Volkskunstfest gilt in Tschechien das internationale Folklorefestival im südmährischen Straznice, auf dem sich Jahr ein Jahr aus bereits seit 1948 jeweils Anfang Juli Dutzende Ensembles aus dem In- und Ausland vorstellen. Drei Tage lang wird im Areal des dortigen Freilichtmuseums auf mehreren Bühnen gesungen und getanzt. Im letzten Sommer bin ich dort auf einer Wiese dem vorbeischlendernden Kulturminister Pavel Dostal begegnet und habe die Gelegenheit für ein Interview genutzt. Nach Straznice komme er fast jedes Jahr, sagte er, und wollte damit wohl andeuten, er sei nicht einer Amtspflicht wegen da. Nun, wie ist sein Verhältnis zur Folklore?
"Positiv - pflegte man in der Zeit des Kommunismus zu sagen. Nun, ich kann aber offen sagen, dass ich tatsächlich eine positive Beziehung zur Folklore habe. Ich habe sie mir auch in jenen Zeiten nicht verderben lassen, als die Folklore von der kommunistischen Ideologie missbraucht wurde. Im Theater, in dem ich in den 60er Jahren arbeitete, konzipierte ich gerne spezielle Vorstellungen als Konfrontation von Volksmusik und Jazz. Wir haben damals z.B. Bands aus Jazzern und Volksmusikinterpreten zusammengestellt. Also etwas, was heute wieder modern ist. Kurz und gut, ich bin in dieser Hinsicht keineswegs voreingenommen gegenüber der Folklore."
Und worauf ist es zurückzuführen, dass die Folklore letzten Endes in einer doch ideologiefreien Gestalt überlebt hat, wollte ich noch von Minister Dostal wissen, und bekam eine beinahe philosophische Antwort:
"Im Unterschied zu anderen Dingen, die nicht überlebt haben, weil sie ihre Wurzeln nicht auch außerhalb des Kommunismus geschlagen haben, überdauerte die Folklore auch unabhängig von den ideologischen Stützen und muss auch heute von keinen Extraideen getragen werden. Denn die Volkskunst als solche stellt doch schon eine Idee dar!"
Auf dem diesjährigen Festival in Straznice waren traditionsgemäß auch viele Kinderensembles vertreten. Kein Wunder, allein in Südmähren selbst gibt es fast in jedem Dorf, aber auch in zahlreichen Städten, ein oder mehrere Folkloreensembles, die für den Nachwuchs sorgen. Mit einem Kinderensemble, das sich der Volksmusik, dem Tanz und dem Gesang widmet, ist aus Luhacovice auch Blanka Petrakova gekommen. Male Zalesi, so nennt sich das Ensemble, trat hier nicht zum ersten Mal auf, diesmal aber verlief sein Auftritt ganz nach dem Motto Veni, Vidi,Vici, also: gekommen, gesehen und gesiegt! Mit seinem Programm wurde Male Zalesi nämlich zum Sieger des Folklorefestivals Straznice 2003 gekürt. Mit dabei waren auch einige Eltern, um ihren Sprösslingen, sprich Ensemblemitgliedern, und deren Leiterin behilflich zu sein. Frau Vera Haluzova hat zwei Söhne im Ensemble Male Zalesi, Jarek und Adam, 14 und 10 Jahre alt. Wie sie mir sagte, hätten sie und ihr Mann die Musik eigentlich nie gepflegt, geschweige denn die Folklore. Beide stammen aus der nordmährischen Industriestadt Ostrava, zogen aber vor mehreren Jahren in das südmährische Luhacovice um, wo es ihre Kinder dann so richtig "gepackt" hat.
"Beide haben von klein auf in einem Folkloreensemble getanzt, später in der Musikschule das Gitarrespiel gelernt und schließlich auch in der Zimbalkapelle gesungen. Der ältere Sohn wollte nicht nur singen, und so hat man ihm das Kontrabassspiel beigebracht. Der jüngere Sohn wollte es seinem Bruder dann gleichtun."
Und in der Tat, der zehnjährige Adam macht auch gar kein Hehl daraus:
"Mein Bruder spielte Kontrabass in einer Zimbalkapelle, und ich wollte auch mit denen spielen. Man brauchte gerade einen Zimbalspieler, und so fing ich damit an."
Ja, so einfach war das für Adam. Aber Geige hätte er keinesfalls gewählt, das Zimbal war also offensichtlich ganz nach seinem Gusto. Und so spielte er in Straznice unter freiem Himmel exklusiv für Radio Prag - mit großem Lampenfieber wohlgemerkt:
Das Kinderensemble Male Zalesi aus Luhacovice feierte kürzlich sein 40. Gründungsjubiläum. Lange Jahre wurde es von Vera Haluzova einer Ethnographin und ehemaligen Lehrerin, geleitet, die im Laufe der Jahrzehnte eine Vielzahl von regionalen Volksliedern bzw. Volksbräuchen wiederentdeckt und aufgezeichnet hat. Der Lebensstil der Menschen habe sich nicht so schnell gewandelt, deren Denkweise schon, sagt die Zeitzeugin des Umbruchs auf dem Lande Anfang der 50er Jahre:
"Leider war ich Zeitzeugin der so genannten Kollektivierung des Dorfes. Die Entstehung der landwirtschaftlichen Genossenschaften ging mit enormen Problemen einher. Diejenigen, die sich wehrten beizutreten, wurden ausgegrenzt, in die Isolation getrieben und gleichzeitig mit enorm hohen Abgaben belastet. Ich würde es so ausdrücken: Das Volk lernte ein zweites Gesicht anzusetzen, was sehr schlimm war. Im Inneren haben sich die Leute wiederum nicht so sehr verändert. Und Volkslieder, Volksmusik, Volksbräuche und Rituale, das alles nährte das Gefühl der Gemeinsamkeit auf dem Lande. Ich glaube, dass die Folklore tatsächlich vielen Menschen half, die schweren Momente in ihrem Leben zu überstehen, trotz all der Tendenzen neue Elemente in sie zu infiltrieren."
Die 79jährige leidenschaftliche Folkloreliebhaberin Vera Haluzova kann sich ihr eigenes Leben ohne die jahrzehntelangen intensiven Kontakte mit der Volkskunst gar nicht vorstellen. Worin sieht sie die Bedeutung der Volkskunst in der heutigen Zeit?
"Ich habe große Angst, dass die heutige hektische Welt immer mehr auf die Poesie verzichtet, und die Volkskunst ist ja die Poesie des Lebens, die Würze des Lebens! Stellen Sie sich vor, wir hätten kein Weihnachtsfest, keinen Weihnachtsbaum, keine Krippe. Dabei geht es nicht nur um diese Bräuche. Mit ihnen hängt vieles andere zusammen. Zum Beispiel die Weihnachtsplätzchen. Wenn ich nicht meine neun Sorten Weihnachtsplätzchen backen, keinen Fisch oder ein anderes traditionelles Gericht zubereiten würde, dann wäre es kein echtes Weihnachtsfest für mich. Das alles verleiht doch dem Weihnachtsfest erst den richtigen Zauber."
Nicht nur in Südmähren sind alte Volkstraditionen auf ihre Art und Weise immer noch lebendig geblieben, und nicht nur in Südmähren gibt es Menschen, die - wie Blanka Petrakova - diese für ihre Kinder und Kindeskinder pflegen und aufrechterhalten wollen. Es gibt aber auch viele andere, die vor dem Verlust dieser als Identitätsmerkmale empfundenen Bestandteile des Kulturerbes warnen, besonders im Zusammenhang mit dem nahenden EU-Beitritt Tschechiens. Meine Gesprächspartnerin ist in dieser Hinsicht aber zuversichtlich:
"Ich zähle mich selbst zu jenen Romantikern bzw. Idealisten, die glauben, dass das Gegenteil eintreten wird, nämlich dass unsere Einbindung in die EU uns die Chance gibt, unsere Traditionen in Europa vorzustellen, sie weiter zu entfalten und damit zugleich unsere Geschichte nicht zu vergessen. Es ist für uns eine Chance, unser Anderssein, unsere eigenen Spezifika auch mittels des enormen Reichtums unserer Volkskunst, das sowohl in den Menschen selbst, als auch in wertvollen Sammlungen, in Museen enthalten ist, noch mehr zu zeigen und dadurch gleichzeitig auch Europa reicher zu machen - nämlich seine kulturelle Mannigfaltigkeit, die, denke ich, ohne die tschechische Nation und auch ohne dieses Stück Land - ohne Südmähren - um vieles ärmer wäre."
Und damit ist, meine Damen und Herren, die heutige Begegnung mit Südmähren und seinen Volkskunsttraditionen, die unverkennbar als charakteristisches Identifikationsmerkmal dieser Region der Tschechischen Republik gelten, zu Ende. Ihre heutigen Begleiter Jitka Mladkova und Gerald Schubert wünschen Ihnen, wo auch immer Sie sich jetzt befinden, ein gedeihliches geruhsames Weihnachtsfest! Als musikalischen Schlusspunkt hören Sie nun eine der derzeit beliebtesten tschechischen Bands, nämlich die Gruppe Cechomor, die für ihre Synthese von Folklore und moderner Musik bekannt ist. Gemeinsam mit Musikern der Tschechischen Philharmonie spielt sie nun den Titel Siblice.