Weihnachten der Prager Obdachlosen
Weihnachten steht unmittelbar vor der Tür. Während die Einen die letzten Vorbereitungen für das große Fest treffen, Geschenke einpacken und gespannt sind auf die Reaktionen der Beschenkten, plagen andere Mitmenschen ganz elementare Sorgen und das Weihnachtsfest vermag ihre Nöte kaum zu lindern. Die Rede ist von den schwächsten Mitgliedern einer jeden Gesellschaft: von Menschen, die ihr Dasein ohne ein festes Dach über dem Kopf fristen. In der kalten Jahreszeit bedeutet dies einen täglichen Kampf ums Überleben. Wie in jeder anderen europäischen Großstadt gibt es auch in Prag Freiwillige und Organisationen, die Obdachlosen bei diesem Kampf unter die Arme greifen. Mit zweien von ihnen hat Katrin Sliva im Rahmen des heutigen Forums Gesellschaft über ihre Arbeit unterhalten. Nicht zuletzt auch darüber, wie Menschen, deren Zuhause die Straßen und öffentliche Einrichtungen in Prag sind, Weihnachten feiern:
"Nicht nur unseren Schätzungen sondern auch Schätzungen anderer Organisationen und Einzelpersonen zufolge, die sich mit der Obdachlosenproblematik beschäftigen und diesen Mitbürgern Hilfe anbieten, sind in der Hauptstadt Prag vier bis fünftausend Personen ganz offensichtlich obdachlos. Das sind Menschen, deren Leben sich hauptsächlich auf der Straße abspielt, die am Hauptbahnhof schlafen und weder vorübergehend noch dauerhaft eine Unterkunft haben. Diese Zahlen müssen aber nicht der Realität entsprechend, denn es ist sehr schwer, die Obdachlosenzahlen zu erfassen."
Im Gegensatz zur Zahl der auf der Straße Lebenden ist die Zahl der Übernachtungsplätze in den Unterkünften für Obdachlose leicht herauszufinden. Jede der hiesigen Einrichtungen verfügt über bestimmte Kapazitäten und die sind schnell addiert. Wie es um das Verhältnis zwischen Obdachlosenzahl und Übernachtungsmöglichkeiten bestellt ist, beurteilt Petr Homolka folgendermaßen:
"In Prag gibt es mit Sicherheit nicht genügend Betten für die Obdachlosen, besonders dann nicht, wenn es draußen anfängt kalt zu werden. Die Organisationen Nadeje, Charita, das Prager Zentrum für soziale Dienste und Prävention, die Organisation Emauzy und wir von der Heilsarmee haben zusammengenommen etwa 600 Betten zur Verfügung. In den Wintermonaten, also jetzt, sind wir in der Lage in unseren Tageseinrichtungen, Obdachlosenküchen und anderen Räumlichkeiten etwa weitere 300 - 400 Personen über Nacht aufzunehmen. Wir, also die Heilsarmee, haben 210 Betten für Obdachlose und seit Anfang Dezember stehen auch unsere Tageszentren als Notunterkünfte zur Verfügung. Auf den Stühlen, Tischen, Fußböden und Treppenstufen finden dort weitere einhundert Personen Platz. Das gilt aber nur, wenn es draußen friert."
Ist selbst das letzte Eckchen von einem Schlaf- und Wärmesuchenden belegt, müssen die Mitarbeiter der Behelfsherbergen die Tore schließen. Wer übrig bleibt, muss sich auf die Suche nach einem anderen Schlafplatz machen. Häufig werden so Straßenbahnen zum Zufluchtsort. Sie bieten Schutz vor der Kälte in der kalten Jahreszeit und in Prag verkehren sie auf einigen Strecken die ganze Nacht über. Metrostationen hingegen sind nachts nicht zugänglich, auch dann nicht, wenn draußen klirrende Kälte Obdachlosen an den Leib rückt. Ab und an sieht man einen zusammengekauerten Obdachlosen im Eingangsbereich zur U-Bahn liegen, in den es ihn wegen ein, zwei Grad Temperaturunterschied gezogen hat. Warum die Bahnhöfe auch bei extremen Minusgraden geschlossen werden und ob er das für richtig hält, Petr Homolka wie folgt ein:
"Die Verkehrsbetriebe haben ganz klar Angst. Ich weiß nicht, ob das gut wäre. Ich denke, es wäre besser, wenn der Magistrat der Stadt Prag im Winter die Zahl der Notbetten erhöhen würde. Notherbergen, meinetwegen in Sporthallen oder alten Gebäuden, wo auch immer, eine Zufluchtsstätte schaffen, die die Obdachlosen im Zeitraum von Dezember bis März vor dem Erfrieren bewahrt."
Ein anderes Problem, das diese Mitmenschen zweifelsohne haben, ist die Versorgung mit Nahrung. Bei den bereits erwähnten Prager Hilfsorganisationen gibt es zwar regelmäßig heiße Suppe und belegte Brote für Bedürftige, aber auch das natürlich nur in begrenzten Mengen. Für mehr reicht das Geld nicht. Glücklicherweise finden sich zwar Firmen und Privatleute, die Essen spenden, aber auch das ist im Nu verteilt. Doch einige der am Prager Hauptbahnhof lebenden Obdachlosen haben Glück: Eine Gruppe von jungen Pragern, allesamt berufstätig, und zwar nicht im Bereich der Sozialarbeit, gehen nämlich jeden Samstag an besagten Bahnhof - nicht nur, um eigenhändig zubereitetes Essen an Obdachlose zu verteilen, wie Kristina Koldinska, eine dieser Helferinnen, betont. Die Anfänge dieser Initiative beschreibt sie so:
"Ich habe eben gerade bereits erzählt, dass wir diesen Leuten begegnet sind, wie ihnen alle anderen Bewohner dieser Stadt begegnen, wenn sie sich im Zentrum aufhalten. Automatisch trifft man dort auf Leute, die um Geld betteln, aber oft auch nur ein bisschen menschliche Wärme suchen. Wir haben also begonnen, Freundschaften zu diesen Menschen aufzubauen, die in Prag auf der Straße leben. Einerseits zu Leuten, die in der Innenstadt betteln, andererseits mit Obdachlosen, die am Prager Hauptbahnhof "leben". Besagter Bahnhof bildet heute den Schwerpunkt unserer Arbeit, denn in Prag gilt ein Bettelverbot im der Stadtzentrum. Wir haben uns dagegen gewehrt, aber leider wurde es dennoch ausgesprochen. Ich lehne dieses Verbot sowohl als Privatperson als auch als Juristin kategorisch ab, aber es ist im Gespräch, dass es gar noch verschärft werden wird. Deshalb suchen wir die Obdachlosen gerade dort regelmäßig auf. Zu unseren Besuchen bringen wir immer etwas Gutes zu essen mit. Bei der Zubereitung geben wir uns sehr viel Mühe, damit unsere Freunde ein Mittagessen bekommen, das wir selbst auch mit Appetit essen würden. Außerdem verweilen wir eine Zeit lang mit den Menschen, wir reden mit ihnen, nehmen uns Zeit für sie. Was sie außerdem sehr zu schätzen wissen, ist, dass wir auf sie zukommen und sie nirgendwo Schlange stehen müssen."
Und auch zu Weihnachten werden die Freunde nicht allein gelassen: Am zweiten Weihnachtstag wird es ein großes Festessen für die Bedürftigen geben - in einem wahrhaft festlichen Rahmen, wie Kristina Koldinska verrät:
"Diese Weihnachtsfestessen zählen zu den schönsten Momenten unserer Arbeit, sie stellen einen der Höhepunkte des Jahres für uns dar. Diese Menschen sind unsere Freunde und haben daher eindeutig ein Recht darauf, dass Weihnachtsfest mit uns gemeinsam zu verbringen. Und wir möchten diese Zeit auch mit ihnen verbringen. Wir machen das schon seit Jahren so und in diesem Jahr ist es gelungen, unser Weihnachtstreffen auf die Prager Burg zu legen. Die Gattin unseres Präsidenten, Livia Klausova, wird ebenfalls zugegen sein. Es wird sicher ein außerordentlich schönes Fest für unsere armen Freunde. Wir laden dazu nicht nur alte Leute und Obdachlose ein, sondern auch Angehörige der Roma-Minderheit, Zuwanderer und Menschen mit Behinderungen."
Festlich wird es auch bei der Heilsarmee zugehen. Dort allerdings bereits am Heiligen Abend:
"Wir veranstalten bereits seit Jahren am 24. Dezember ein Weihnachtsessen für Obdachlose. Das ist schon eine Art Tradition. 360 Personen bewirten wir hier bei uns. Dazu kommen noch 200 Portionen für diejenigen, die gerade bei uns untergebracht sind. Insgesamt verteilen wir also etwa 600 Portionen, und zwar in mehreren Etappen von zwei Uhr an bis 18 Uhr. Für uns ist das ein ziemlich hektischer Tag, denn das Weihnachtsmenü besteht aus der traditionellen Fischsuppe als Vorspeise und Karpfen mit Kartoffelsalat als Hauptgericht. Wie in einer ganz normalen Familie eben. Und die Nachfrage ist sehr hoch."
Künftig werden es Obdachlose in Prag vermutlich noch schwerer haben: Die Tschechische Bahn AG hat Anfang Dezember angekündigt, dass sie die Bahnhöfe in Zukunft ebenfalls nachts schließen werde, um die ungebetenen Übernachtungsgäste aus den Bahnhofgebäuden zu vertreiben. Die Begründung lautete: Schließlich sind wir keine karitative Einrichtung, sondern eine Aktiengesellschaft.
Und das war es vom Forum Gesellschaft. Ein schönes Weihnachtsfest für Sie und bis zum nächsten Mal. Dann schon im Jahr 2004.