Ivan Stern: Unstrukturierte Information ist moderne Form der Zensur
In der nun folgenden Ausgabe der Sendereihe "Heute am Mikrophon" wollen wir Ihnen den Sender Ceský rozhlas 6, also das sechste Programms des Tschechischen Rundfunks, und seinen Chefredakteur Ivan Stern vorstellen. Gerald Schubert hat mit Herrn Stern nicht nur über den Charakter und die Geschichte seines Senders gesprochen, sondern auch über das allgemeine Rollenbild der Journalisten in der tschechischen Nachwende-Gesellschaft.
Herr Stern, das sechste Programm des Tschechischen Rundfunks ist ja sozusagen eine Schwesterstation von unserem siebenten Programm, Radio Prag, das unsere Hörer kennen. Das sechste Programm sendet auf Tschechisch. Können Sie erklären, was die Philosophie des Senders ist, welche Zielgruppe Sie ansprechen wollen, und welche Themen Sie auf welche Art und Weise bearbeiten?
"Wir sind vor allem eine publizistisch-analytische Station. Wir wollen in erster Linie Intellektuelle ansprechen - Leute, die beim Zuhören auch nachdenken. Das ist unser Ziel, und so ist unsere Sendung auch ausgerichtet. Deshalb sind wir auch kein ganztägiges Radio, sondern ein Abendradio. Wir fangen um 18 Uhr an und senden ungefähr bis Mitternacht. Das heißt, wir sind für Leute da, die keine Lust haben fernzusehen oder die gerade nichts Interessantes zum Lesen haben, aber gerne ein paar nachdenkliche Worte hören oder auch mitreden möchten. Denn wir ermöglichen es unseren Zuhörern natürlich auch, per Telefon mit uns zu diskutieren."
Ein bisschen entspricht das alles ja auch dem Charakter dieses Ortes hier. Man muss dazu sagen, dass Sie nicht wie wir im Hauptgebäude des Tschechischen Rundfunks sitzen, sondern ein paar Hundert Meter weiter im Stadtteil Vinohrady (Weinberge) eine wunderschöne Jugendstilvilla haben. Hier ist ja wohl auch die Atmosphäre ein wenig anders als im Hauptgebäude.
"Ja! Wenn ich im Hauptgebäude des Rundfunks bin und zu unserem Sender zurückgehe, dann sage ich immer: Ich gehe aufs Land. Ursprünglich wurde hier in dieser Gegend Wein angebaut, und dieser Charakter ist noch irgendwie geblieben."Kommen wir zur Geschichte des Senders: Die war ja im Laufe der Zeit, nach der Wende des Jahres 1989, relativ wechselvoll.
"Die Station ist als gemeinsames Projekt mit Radio Free Europe (RFE) entstanden. Zunächst war es eine Mischung aus einem Nachrichtensender und einer publizistischen Station. Vor zwei Jahren ist dieses Projekt aber zuende gegangen, weil RFE, also Radio Freies Europa, seine Tätigkeit hier abgeschlossen hat. Seitdem sind wir ein selbstständiges Radio und müssen uns ein bisschen anders profilieren als zuvor."
Der Vollständigkeit halber: RFE sendet noch immer aus Prag in die Welt, aber eben nicht mehr in tschechischer Sprache. Das heißt, Sie sind nicht mehr dabei.
"Genau."
Wie beurteilen Sie denn als Journalist die Entwicklung der journalistischen Landschaft in Tschechien seit 1989? Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Aspekte bei der Suche der Journalisten nach einer neuen Berufsidentität?
"Das ist sehr schwierig zu beurteilen. Aber vor fünfzehn Jahren, also eigentlich vor der Wende, im Kommunismus, da war der Journalist ein Propagandist. Das war ein politischer Arbeiter, der vorher abgestimmte 'Wahrheiten' veröffentlichen musste. Eine eigene Meinung durfte er dazu nicht beitragen. Und von dieser Rolle mussten sich die tschechischen Journalisten abschneiden. Das heißt, man musste päpstlicher sein als der Papst. Anfangs waren wir daher der Ansicht, wir dürfen nur Informationen bringen - die Meinung muss sich der Zuhörer dann selbst bilden. Jetzt aber sind wir langsam zu dem Schluss gekommen, dass wir sagen: Nein, wir dürfen kommentieren! Wir dürfen auch persönliche Meinungen zu Gehörtem und Gelesenem ausdrücken, wenn wir auch gute Argumente für diese Meinungen haben."
Das war die Sicht der Journalisten. Wenn Sie jetzt versuchen, das von Kehrseite her wahrzunehmen: Wie verhalten sich denn die Leser, die Hörer, die Fernsehzuseher? Ist es vielleicht so, dass bei den Menschen der Nachholbedarf, der Bedarf nach etwas anderem, sehr groß war, und die Entwicklung dadurch so schnell gegangen ist, dass es seriöse Medien ein bisschen schwieriger hatten, da mitzuziehen? Schwieriger als das in den letzten fünfzehn Jahren beispielsweise in Österreich oder Westdeutschland der Fall war?
"Ja. Die Vorstellung war anfangs: Wir müssen das bringen, was die Zuschauer, die Zuhörer, die Leser sich wünschen. Das, was die Nachfrage darstellt. Aber das ist nicht wahr. Wir kommen langsam zu dem Schluss, dass wir diese Nachfrage auch mit unseren Vorstellungen und unseren neuen Sichtweisen bereichern dürfen - ohne dass man das gleich als unfaire Beeinflussung des Publikums sehen darf. Wenn die Menschen nur Informationen bekommen, ohne dass diese Informationen irgendwie strukturiert sind, dann ist das eine Form der modernen Zensur. Und die ist genau so schlecht, wie wenn die Informationen selbst zensuriert werden."
Damit sind wir im Spannungsfeld zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Medien. Wie nehmen Sie die Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien, zu denen unsere beiden Sender ja gehören, in einer Gesellschaft wahr, in der die Marktwirtschaft als etwas Neues gilt, das man lernen muss - und das man vielleicht so gut lernen will, dass man andere Dinge vernachlässigt? Ist das etwas, was auch die öffentlich-rechtlichen Medien bedroht?
"Man kann das so sagen. Man muss ja in Betracht ziehen, dass die privaten Medien etwas produzieren und ihre Produkte gut verkaufen müssen. Deshalb existieren auch die öffentlich-rechtlichen Medien, die nicht unbedingt kurzfristig erfolgreich sein müssen. Sie sind vor allem ein Raum für den Austausch und die Präsentation verschiedener Meinungen. Wenn wir aber einen solchen Raum bilden, dann erfüllen wir meiner Meinung nach unsere Aufgabe."