Geschichte des tschechischen Volkslieds (Teil 2): Beginn der wissenschaftlichen Erforschung

Vor zwei Wochen haben wir im Kultursalon über die Entwicklung der tschechischen Volkslieder berichtet. Über Jahrhunderte spielte dabei die Kirchenmusik eine wichtige Vermittlerrolle. Die zweite Folge unseres Zweiteilers zur Geschichte des tschechischen Volksliedes beginnt an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Damals änderte sich der Stellenwert der Volksmusik ganz wesentlich. Ab da wurde sie nämlich erforscht und gesammelt. Über diese Entwicklung hat Jitka Mládková erneut mit dem Musikforscher Lubomír Tyllner von der Tschechischen Akademie der Wissenschaften gesprochen.

Jean Jacques Rousseau
Eines der folgenreichsten Ereignisse der neuzeitlichen europäischen Geschichte war ohne Zweifel die Französische Revolution zwischen 1789 und 1799. Sie hat sich auch auf das kulturelle Klima ausgewirkt. Doch schon Jahrzehnte davor hatte der Philosoph Jean Jacques Rousseau, der als einer der bedeutendsten geistigen Wegbereiter der Französischen Revolution gilt, durch seine Werke neue Impulse geschaffen. Sie hatten großen Einfluss auf die Politik, aber auch auf die Pädagogik bis in das 20. Jahrhundert: die Zuwendung zur Natur, der Volkskunst und insgesamt zum Volkstümlichen. Ein Beispiel stammt von Marie Antoinette, der Gattin des französischen Königs Ludwig XVI.: Im Park des Schlosses von Versailles ließ sie Ende des 18. Jahrhunderts ein kleines Dorf errichten, das die ländliche Idylle demonstrieren sollte.

Alte Slawen
Vor Anbruch des 19. Jahrhunderts zeigte sich in Europa also eine neue philosophische Denkrichtung, die für die weitere Entwicklung der Volkskultur ausschlaggebend war. Wichtig war in diesem Zusammenhang aber vor allem die Arbeit eines Deutschen, wie Lubomír Tyllner von der Tschechischen Akademie der Wissenschaften herausstreicht:

„Zu den ersten Vertretern der Aufklärung gehörte auch der Philosoph Johann Gottfried Herder. Besonders wichtig war er für die Tschechen, bei denen er auch sehr beliebt war. In seinen Büchern über die Entwicklung der Menschlichkeit in der Geschichte der Menschheit ging er davon aus, dass die älteste Geschichte im Zeichen der antiken Völker stand, das Mittelalter den Germanen gehörte, aber die Zukunft den slawischen Völkern. Genau dies hat ihn bei den Tschechen beliebt gemacht. Herder, der selbst gegen Ende des 18. Jahrhunderts Volkslieder sammelte, hat offenbar auch das Handeln der entsprechenden Institutionen in Wien beeinflusst.“

Lubomír Tyllner  (Foto: People.cz)
Nach den Napoleonischen Kriegen wurde in der Hauptstadt der Habsburger Monarchie der Beschluss gefasst, eine Art Inventur im Vielvölkerstaat durchzuführen. So sollte zum Bespiel geklärt werden, wie sich die Informationen der Wiener Zentralmacht in die Regionen gelangen, wie der Kaiser wahrgenommen wird und ähnliches mehr. 1819 kam hierzu auch die Anordnung hinzu, Volkslieder und Volkstänze samt Melodien zu sammeln, also aufzuzeichnen. Lubomír Tyllner:

„Das war eine große Herausforderung für die Sammler, denn Notenlesen war kein Allgemeingut. Daher wandten sich die Projektinitiatoren insbesondere an Lehrer und Priester, die in der Notenaufzeichnung bewandert waren und diese Pionierarbeit leisten konnten. Das in den böhmischen Ländern versammelte Liedergut wurde an das oberste Verwaltungsorgan in Prag, das so genannte k.u.k. Landesgubernium geschickt und hier um das Jahr 1823 in der so genannten ´Kolowrat-Handschrift´ zusammengefasst. So entstand die erste bedeutende Volksliedsammlung auf dem Gebiet von Böhmen und Mähren. Interessant ist dabei, dass auch deutsche Lieder gesammelt wurden. Der Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung an der Gesamtzahl der Einwohner Böhmens lag zwischen einem Viertel und einem Drittel, deswegen waren deutsch gesungene Lieder im erwähnten Sammelwerk in starkem Umfang vertreten.“

Noten - noty
Das Volkslied nahm also zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits eine völlig andere Stellung ein als im Lauf der vorangegangenen Jahrhunderte:

„Das Volkslied war natürlich immer schon da. Jetzt aber rehabilitierte man es als ein Produkt des Volkes, das das Recht auf Existenz und eine eigene Kulturgeschichte hat. Mit den neuen philosophischen Ansätzen und der Hinwendung zum einfachen Volk wurde auch das Interesse am Volkslied geweckt. In den Volksliedern entdeckte man einen großen ästhetischen Wert - sowohl in den Texten als auch in den Melodien, die bekannterweise auch viele angesehene Komponisten für ihr Werk genutzt haben.“

Karel Jaromír Erben
Volkslieder waren ein fester Bestandteil des Alltagslebens damals. Sie hatten dabei mehrere Funktionen, wie Tyllner erläutert:

„Mütter sangen ihren Kindern vor, zum Beispiel Wiegenlieder. Ebenso hatten Kinder und Jugendliche ihre eigenen Lieder, aber auch die Erwachsenen - verheiratete Männer und Frauen. Bekannt ist auch eine ganze Reihe von Hochzeitsliedern. Es gibt zudem Lieder über alte Menschen oder Trauerlieder, die beim Begräbnis gesungen wurden. Der tschechische Volkslieder- und Volksmärchensammler Karel Jaromír Erben hat Mitte des 19. Jahrhunderts die bekanntesten Lieder in einem Buch zusammengefasst. Das Buch trägt den Titel ´Von der Wiege bis ins Grab´. Daran sieht man, dass die Lieder tatsächlich die Rolle eines Begleiters im Leben der Menschen spielten. Nach und nach ging aber diese Funktion der Lieder verloren, weil man sie zunehmend auch bei verschiedenen Festen gesungen wurden.“

Foto: ŠJů,  Creative Commons 3.0
Die Volkslieder wurden sowohl in der Stadt als auch auf dem Land gesungen, allerdings mit Unterschieden. Dies rührte daher, dass Stadt uns Land in der frühen Neuzeit gewissermaßen voneinander isoliert waren. Den in der Stadt gesungenen Liedern lagen Tyllner zufolge oft literarische Motive zugrunde. Verbreitet haben sich dort auch die so genannten Krämerlieder. Später kamen auch die Tingeltangel- beziehungsweise Kabarettslieder hinzu, die bereits am Rande der Volkstümlichkeit standen. Diese Entwicklungen gab es auf dem Land eher nicht, und daher hatten die dortigen Volkslieder eine spezifische kulturgeschichtliche Bedeutung:

´Widerhall der russischen Lieder´ und ´Widerhall der tschechischen Lieder´
„Auf dem Land ist die tschechische Sprache in einer schöneren und reineren Form erhalten geblieben. Auf dem Lande ist auch eine größere Musikalität erhalten geblieben. Daher wurden Volkslieder auch zur Grundlage von literarischen Werken wie zum Beispiel von Ladislav Čelakovský und Karel Jaromír Erben in der Zeit der so genannten nationalen Wiedererweckung. Konkret geschah dies in den Büchern ´Widerhall der russischen Lieder´ und ´Widerhall der tschechischen Lieder´ von Čelakovský und im Sammelband ´Volkstümliche böhmische Lieder und Abzählreime“ von Erben. Zu einer starken gegenseitige Beeinflussung von ländlicher und städtischer Musikkultur kommt es erst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.“

Im Jahr 1902 kam ein neuer Impuls aus Wien zur wissenschaftlichen Erforschung der Volksmusik. Alle Österreichischen Kronländer, darunter auch Böhmen und Mähren, wurden in ein riesiges Projekt eingebunden, das nach Kronländern und nach Sprachgruppen gegliedert war. Zu diesem Zweck wurden hierzulande mehrere Komitees gebildet: eines für die Volksmusik in Böhmen, ein anderes für mährische Volkslieder, ein drittes für die Volkslieder der Deutsch-Böhmen. An ihrer Spitze standen prominente Persönlichkeiten. Für Böhmen war dies Otakar Hostinský von der Prager Karlsuniversität, für die Deutsch-Böhmen der Volkskundeprofessor Gustav Jungbauer von der deutschen Universität in Prag und für Mähren der heute weltweit bekannte Komponist Leoš Janáček. Das Sammeln der deutsch-böhmischen Volkslieder wurde dem Prager Germanisten Adolf Hauffen übertragen. Das Projekt sollte dazu führen, dass die Volkslieder der einzelnen Gebiete systematisch herausgegeben werden. Doch der Erste Weltkrieg setzte dem schon bald ein jähes Ende. Lubomír Tyllner ergänzt:

Phonograph
„Das Projekt hieß ´Das Volkslied in Österreich´. Gesungene Volkslieder sowie Instrumentalmusik wurden erstmals auf einem Phonographen aufgezeichnet, der 1877 von Thomas Alva Edison in den USA erfunden worden war. Auch bei uns in der Akademie befinden sich noch heute Phonograph-Wachswalzen mit Aufzeichnungen tschechischer und mährischer Volkslieder, die mithilfe des Wiener Volksliedarchivs mittlerweile sogar digitalisiert wurden.“

Den Großteil der Melodien hat der bewundernswerte Dudelsackspieler František Kopšík aus dem südböhmischen Klenovice eingespielt - und das fast nonstop. So kamen allein von ihm rund 30 Wachswalzen zusammen:

Leoš Janáček
„Insgesamt verfügen wir ungefähr über 40 Wachswalzen mit Interpreten aus Böhmen. Die Volkskundlergruppe um Leoš Janáček hat ungefähr 80 phonographische Wachswalzen mit mährischen Volksliedern und anderen volkstümlichen Melodien eingespielt. In Prag haben wir die Digitalisierung schon im Jahr 2000 abgeschlossen, in Mähren befindet sich dieser Prozess kurz vor seinem Abschluss.“

Der Wachswalzenbestand der Schallarchive mit den ältesten Einspielungen tschechischer Volkslieder ist im Vergleich mit denen in Österreich und Deutschland wesentlich bescheidener. Ein Teil der fragilen Aufzeichnungstechnik hat laut Tyllmer nicht die wiederholten Umzüge der akademischen Institute überlebt. Über die Aufzeichnungen des erwähnten František Kopšík sagt er:

„Er war damals fast 90 Jahre alt. Wenn man sich bewusst macht, dass die damaligen Volksmusiker den Großteil ihres Repertoires als junge Menschen erlernt haben, bekommen wir mit Kopšíks Aufnahmen aus dem Jahr 1909 etwas Einmaliges zu hören: Musikkultur aus seiner Jugend. Ich nenne dies eine ´Direktübertragung´ aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.“